Nicole Müller:Niemand ist normal. Niemand ist aggressiv.
Nicole Müller schreibt im Auftrag des Festivals nach den Performances der International Performance Art Giswil am Samstag, 09.09.2023 in der Turbine Giswil.
Durch die Septemberhitze gefahren, das Licht ist verschleiert. Sattes Grün vor vergrauter Ferne. Quellwolken an den Rändern des Himmels, die Sonne steht hoch. Die Bauernhöfe in der Landschaft liegen da wie träge Katzen. So gleitig wird man vom Zug davongetragen, dass die Autos auf der Landstrasse zu kriechen scheinen. Ich schliesse die Augen, gebe mich der Müdigkeit hin, blättere gelegentlich und ohne grosse Überzeugung in der mitgebrachten Lektüre. Es ist schön, müde zu sein, wenn man nichts zu tun hat ausser träumen. Die Landschaft fliesst unter die Lider und hinten aus dem Kopf wieder hinaus. Der Rotsee, Schrebergärten, ein Hochhaus. Ist das nicht Littau? Und jetzt schon Luzern mit brechend vollen Perrons. Senioren, Wandervögel, verschwitzte Männer in dunkelblauen Hosen und zerknautschten weissen Hemden. Feierabend, Freizeit, Ferien. Kleine Gruppen von Frauen im Dirndl streben dem Ausgang zu, die Brüste umrahmt von Spitzenbesatz. Auch eine Performance.
Da sitzen sie vor der Halle, weithin sichtbar in der grünen Landschaft, am Ende der Matten, hellblau und aprikosenfarben: Dagmar und Andrea. Auf dem Tisch die Reste von Zwetschgenkuchen, eine Schale mit Früchten. In der dämmrigen Halle andächtige Stille, die Künstler*innen proben die Performances, gesprochen wird nicht. Ein Hin- und Hergehen, ohne Logik für Aussenstehende. Das dumpfe Geräusch von nackten Füssen, die auf dem Boden auftreffen. Schlossküchenboden, weiss und schwarz geplättelt, mit grossen Betonflächen dazwischen. Da standen vermutlich die Turbinen. Langsam wird es dunkel. Alle packen mit an, die Tische kommen vor die Küche, vor den kleinen, geduckt an der Halle klebenden Anbau. Andrea läutet mit der Glocke. Nach und nach schlendern die Künstler*innen aus der Halle und über den Platz. In der Küche duftet es nach Kuchen, Blech um Blech liegt er da, abgedeckt mit sauberen Küchentüchern. Erwartung liegt in der Luft. Ich kenne diese köstliche Verheissung. Von früher, von den Tagen vor dem grossen Dorffest, wenn alles vorbereitet und getan ist. Nichts anderes kann man mehr tun als warten und hoffen, dass alles gut geht, dass die Liebe in den Dingen auf ihrem Flug zu den Menschen diese auch wirklich erreicht. Aber noch ist es Freitag und wir essen draussen im schwindenden Licht. «Where do you come from?» - «From Saignelégier» - «Ah, très bien. Alors on peut se parler en français?» Grüppchen, die zusammenstehen. Zaghafte Konversationen. Es wird geraucht. Stille. Das Tageslicht löscht sich endgültig aus, während der Berg das Wasser weiter in Schwüngen aus sich herauspresst. Jemand sagt: «I’m in full mode panic.» Jemand sucht den Flaschenöffner, den Schlüssel zum Kühlschrank, einen feuchten Lappen. Es wird Geschirr sortiert und in der dampfenden Maschine gewaschen. Schliesslich kommt das Abendessen, im Kofferraum eines Autos. Es wird ausgeladen, in der Küche zum Buffet arrangiert. Nelson hat das alles im Lagerhaus gekocht, aber Nelson ist nicht mitgekommen. Er ist müde und muss sich ausruhen.
Was sieht man? Was will man sehen? Was bleibt? Was verblasst? Ein Performance Festival ist mehr als jede Kunstform der gelebte Augenblick und die radikale Offenheit, sich auf diesen einzulassen. Du bist Teil dessen, was geschieht. Diese Kunst braucht dich, braucht deine Gegenwart, wird erst mit dir und im geteilten Moment zur Kunst. Das gefällt mir, das tut mir gut. Performance Art ist weit weg von der Siegertreppenmentalität. Niemand da, der gleich die Lohnklassen aufmacht: Teuerster Künstler der Gegenwart!! Höchstes Gebot im Kunstmarkt!! Millionenschweres Gemälde. Diese Treppen in den Museen, die dich gleich beim Eingang in die Knie zwingen (Erich Keller). So gross ist die Kunst und so klein bist du. Und während du im Museum auf dem Weg in die lichten Höhen ins Schnaufen kommst, darfst du noch die Namen der Sponsoren lesen, eine Liste, auf der dein Name ganz sicher nie stehen wird, so viel ist klar. Performance Art, das ist die demokratischste aller Künste. Es darf auch jede*r etwas darüber sagen, es gibt - weniger als in anderen Künsten - die fest zugeteilten Sprechberechtigungen, Berechtigungsklassen 1 bis 6, je nachdem, ob man Kunst studiert hat oder nicht oder sonstwie besonders sprechberechtigt wäre, da Museumsdirektorin, Kunstpabst, Sammler etc. Performancekunst ist die Holzklasse der Kunst, eine arme Kunst, arte povera. Eine Kunst, ganz nah am Erfindungsgeist der ländlichen Regionen, wo man es sich gewohnt ist, aus wenig viel zu machen.
Marius Risi, der Kulturbeauftragte des Kanton Obwalden, spricht. Im Schatten der Halle scharen sich die Festivalgäste um ihn, leises Übersetzungsgemurmel. Nicht alle verstehen Deutsch, nicht alle verstehen Englisch. Es sind auch Gäste aus der Ukraine da, Menschen, die vor dem Krieg geflohen sind und jetzt im ehemaligen Hotel Krone eine Kollektivunterkunft gefunden haben. Die Kinder sind eingeladen, zu zeichnen, was ihnen am Festival am besten gefällt. Marius Risi hat Reis mitgebracht und ein Stück Sbrinz. Früher war reger Verkehr über den Brünig. Man exportierte Fleisch, Rinder und den ersten lagerfähigen Hartkäse in die Lombardei und brachte von dort Reis und Weizen zurück. Man sprach Italienisch, um Geschäfte zu machen. Zwischen den Zeilen des Kulturbeauftragten ist das Bedauern spürbar, dass die Giswiler nicht zahlreicher am Festival erscheinen, dass sie – wie er sagt – ein wenig auf sich selbst bezogen sind. Und doch: Wer könnte dieser Gegend oder den Menschen in ihr böse sein? Die vollkommen flache Aaried Ebene ist in die Berge geschoben, eine topographische Sackgasse, umringt von Felsen und zauberhaft besonnten, vom Herbstlicht üppig modellierten Hügeln.
Emma Bertuchoz (Saignelégier/CH), Thilda Bourqui (Zürich/CH), Kairaan Kika (Genf/CH), Xafya (Zürich/CH), «Les Sabottes»
Da liegen sie, am Boden. Reglos, die Beine geschient in Holz. Cowgirl, Krieger und Dame. Bringen sich mit Hilfe der Seile, die von der Decke herabhängen, mühsam auf die Beine. Marionettenhafte Bewegungen, ruckig und prekär, in ihrem Fluss behindert von den «sabottes». Der Titel der Performance ist Programm. Emma Bertuchoz hat die hölzernen Gehhilfen? Prothesen? Beinschienen? selber gezimmert, in der Werkstatt ihres Vaters in Saignelégier. «Sabot» heisst «Holzschuh». «Bottes» heisst «Stiefel», aber natürlich klingt im erfundenen Wort auch die «Sabotage» an. Man denkt an die Narrative, die uns alle an der freien Entfaltung behindern. An die Zuschreibung der Geschlechter und eine damit verbundene ritualisierte Sexualität, an Begegnungen, die vom gesellschaftlichen Vorurteil (Geschlecht, Rasse, Klasse, Einkommen und Wohnlage) bereits vorverfälscht sind. Nun wird der Krieger, behängt mit modischen Fetzen, zur nächsten Figur geleitet. Die Figur bewegt sich ohne Seil, muss aber unterstützt werden, muss lernen, steifbeinig weiterzukommen zur nächsten Figur und zur nächsten Figur, die genauso ungelenk ist, aber jede Figur ist auf eine je eigene spezifische Art ungelenk. Drei Figuren. Holzstiefel, römische Sandale bis unters Knie und Damenstiefel mit zu kurzen Absätzen. Man empfindet Bedauern beim Anblick dieser Bewegungsmühen, bei dieser ins Holz eingezwängten Gefangenschaft. Die Figuren kommen nur vorwärts, indem sie sich gegenseitig stützen. Ein Narrativ stützt das andere, ganz gleich, wenn auch alle unter der Rigidität der Gehhilfen leiden. Keine und keiner der drei kommt auf die Idee, das Holz ins Feuer zu werfen. Die Kinder unter den Festivalgästen sitzen still und schauen gebannt und ohne einen Mucks zu machen zu. Bestimmt erkennen sie die Versuchsanordnung aus dem Disney-Film «Toys Story» wieder, wo steife Spielzeuge plötzlich lebendig werden und unter Ausschluss des Besitzers unzählige Abenteuer erleben. Die Hauptfigur in «Toys Story» heisst bezeichnenderweise «Woody». In der Halle trennen sich die Figuren, gehen geradewegs auf Festivalgäste zu, spiegeln ihre Pose. Die Pose der Nachdenklichkeit, Hand unterm Kinn, die Pose des Dasitzens und Zuschauens, die Pose des Dokumentierens mit dem Handy. Zwar haben die Festivalgäste keine Holzschuhe an, aber wer weiss, worin sie gefangen sind, in welchen Denkroutinen, in welchen Routinen der Konsumation, in welchen Routinen der Kunstaufnahme? Die Spiegelung macht klar, dass die Figuren etwas verkörpern, das wir, die Festivalgäste, möglicherweise so sehr verinnerlicht haben, dass wir das Gewicht an den Füssen nicht mehr spüren. Das ist die Vollendung gesellschaftlicher Narrative, dass das Aufgezwungene gefühlt wird als Natur. Die «natürliche» Bestimmung der Frau. Die «gottgegebenen» zwei Geschlechter. Die «natürliche» Überlegenheit der weissen Rasse. Der auf «Leistung» beruhende Vorrang der Superreichen. Die drei Figuren streben ins Freie, laden die Gäste ein, mitzukommen, öffnen die Tore, rollen über die Wiese. Stetes Bedauern: Es hilft nicht, im Freien zu sein. Das Freie macht nicht frei. Im Gegenteil wird die geschiente Behinderung noch greller sicht- und spürbar. Und da, plötzlich ein Hupen. Ein Traktor kommt vorbei, mit einem gut gelaunten Bauern. Zuerst denkt man: Zufall! Dann aber hält der Bauer an und die drei Figuren steigen auf die hölzerne Ladeplattform. Und da stehen wir, verdutzt und belustigt, aber auch ein wenig verunsichert, während die drei Figuren fröhlich winkend davonfahren. Ich habe sie bedauert, doch nun zeigt sich, dass sich ihre Anpassungsfähigkeit und ihre Mühe gelohnt haben. Die hölzern gehenden Repräsentanten der herrschenden Ordnung haben einen «Lift» bekommen und fahren uns allen davon. Nun vielleicht bedauern sie uns. Uns die Zurückgebliebenen, Abgehängten, die wir sie nicht mehr einholen können, so sehr wir uns auch anstrengen wollten. Da ist kein Platz mehr auf der Plattform. Der Traktor ist abgefahren, zu dieser Party sind wir nicht eingeladen. Sorry, aber Sie stehen nicht auf der Liste!
Claudia Grimm (Bern/CH), «durchkommen wollen»
Sie kommt durch den Haupteingang, zart, rührend und listig zugleich. Eine ältere Dame in weisser Bluse. Um die Hüften was? Ist das ein Patronengurt? Es erinnert mich an den Gürtel, den russische Kellnerinnen in einem Lokal in Moskau getragen haben. Zehn Wodkagläschen steckten darin und diese wurden – tack, tack, tack, tack, tack - neben den Teller des Gastes gestellt und vom Gast auch gleich auf ex getrunken, eins nach dem anderen. Claudia Grimm erscheint barfuss, lächelnd und das Publikum neugierig bestaunend. Sie rollt sich selber den roten Teppich aus, schiebt mit dem Fuss nach und nach einen Rolle Seidenpapier vor sich her in die Halle hinein. Schon mal sehr witzig, diese papierdünne, raschelnde Promizone, do it yourself. Es gehe auch mit minderem Material, bemerkt die Künstlerin. Haushaltpapier, Klopapier zum Beispiel. Sie wolle den Raum vermessen, sagt sie mit unaufdringlicher, freundlicher Stimme. Und man denkt schon: Oh, weh! Da hat sie aber zu tun bei dieser grossen Halle. Das Thema, so Grimm weiter, das Thema in ihrer Künstlergruppe sei zuletzt gewesen «getroffen werden». Sie sei ja schon mal froh, dass das Thema durch sei. Jetzt sei das Thema «durchkommen wollen» und ich bin ganz bei ihr. Durchkommen wollen, das gefällt mir schon mal. Das klingt ein ganz kleines bisschen nach «sich durchwursteln», ganz mein Thema also, innerlich rolle ich alle roten Teppiche aus für diese Performance. Das Ausmessen, so Grimm weiter, gehe am besten zu dritt. Nachdenkliches Schweigen. Und Schweigen und immer noch Schweigen. Ich vermute mal, dass gleich die Aufforderung kommt, dass ihr jemand hilft beim Messen. Erwartet die Künstlerin, dass man sich spontan meldet? Sind schon welche im Publikum bestimmt, ihr zu helfen? Man wartet gespannt und man wartet weiter gespannt, während sich Claudia Grimm tänzerisch hinsetzt, das eine Bein ausstreckt und lange betrachtet. Man wartet und wartet, es wird ein bisschen lang, aber natürlich, das ist Performancekunst. Hier werden Grenzen ausgelotet, hier wird Kunst über die eigene Geduld hinaus gemacht und sogar noch als Benji sich niederkniet und die Künstlerin bei der Schulter fasst, denkt man: es gehört dazu. Dann plötzlich ist klar, dass hier der Ernstfall eingetreten ist, dass die Kunst aus dem Geleise gesprungen ist und dass man handeln muss. Wir gehen alle hinaus, vor die Halle, manche setzen sich auf die Wiese. Gedämpft werden Vermutungen ausgetauscht, alle sind wie vor den Kopf geschlagen und besorgt. Der Krankenwagen kommt und holt Claudia Grimm ab. Die Künstlerin habe sich erholt und sei in guten Händen, hören wir später am Abend, lange nachdem wir alle zusammen hinter Rhoda Davids Abel und ihrer Schale mit brennendem Salbei durch die Halle gegangen sind, um der Künstlerin Genesung zu wünschen. Nun aber bleibt diese Performance offen, immer mal wieder denke ich an die drei Feuerzeuge, die auf dem Boden bereit lagen, und ich frage mich: Was hätte Claudia Grimm mit diesen Feuerzeugen anfangen wollen? Wie wäre die Performance weitergegangen? Wie und was genau hätte sie vermessen? Und was hätten die Messungen mit dem Thema «durchkommen wollen» zu tun gehabt? In meiner Vorstellung bleibt diese Performance stehen wie ein Bild aus einem Westernfilm. Eine verlassene Geisterstadt, ein offenes Tor, in dem ein zerschlissener Vorhang im trägen Wind hin- und herschlappt. Geheimnis. Rätsel. Was ist geschehen? Und was wäre geschehen, wenn das Ereignis, von dem wir keine genaue Kenntnis haben, nicht eingetreten wäre? Und diese Titel. «getroffen sein». «durchkommen wollen». So viele Worte gibt es doch. Und ausgerechnet diese sind gewählt worden.
Piotr Urbaniec (Krakow/PL & Amsterdam/NL), «Transverse wave, 80 m, Giswil»
Ich bin einmal in Polen gewesen, gar nicht lang nach der Wende. Mein Roman «Denn das ist das Schreckliche an der Liebe» war auf Polnisch übersetzt worden, wurde in Polen zum Bestseller und darum reiste ich nach Warschau, Krakau und Lublin. Die Reise ist mir unvergesslich geblieben, es war eine Reise in eine mir unbekannte Vergangenheit auf den Spuren von Joseph Roth, von Offizierskasinos und rotem Plüsch. Die Menschen waren aufmerksam und liebenswert. Zu meinen Lesungen erschienen sie im Sonntagsstaat und stellten danach gewundene, gelehrte Fragen. Es war März und saukalt, die Gehsteige waren von Eis bedeckt. In Warschau geriet ich zufälligerweise in die Beerdigung von Krzysztof Kieslowski. Die Kirche war brechend voll. Um die Kirche herum knieten die Menschen auf dem blanken Eis und hielten andächtig die Faust an die Brust. Dem Regisseur wurde im letzten Geleit höchste Ehre erwiesen, in der Kirche sangen Chöre die Melodien der Filmtrilogie «Trois Couleurs», eine Musik, die ich auswendig kannte und die mich schliesslich ebenfalls zwang, aufs Eis zu knien. «WELCOME TO WARS» stand auf dem Frotteetuch, das man mir im Nachtzug gab und es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass WARS das Kürzel für die polnische Eisenbahn war. Das alles schwingt mit, als ich Piotr Urbaniec am Vorabend treffe, ein Typ mit wild vom Kopf abstehenden Haaren. Er ist zugänglich, lustig, freundlich, fast ein wenig verlegen, fast ein wenig, als ob er sich selbst den Künstler nicht ganz abnehmen würde. Er stapelt tief, das wird mir am nächsten Tag klar, als er in der grossen Halle eine magische Performance macht. Seltsam, dass ich sagen möchte: Er macht eine Nummer, eine Zirkusnummer. Vielleicht hat Performancekunst tatsächlich etwas mit Zirkus zu tun. Allein schon die Anordnung der Akte, so verschieden, mit Spannung erwartet, das Profane wechselt sich ab mit dem Erhabenen. Die Konzentration ist entscheidend für das Gelingen, wie bei den Artisten. Trotz aller Kunstfertigkeit geht es doch immer um das Ganze: Leben und Tod. Piotr Urbaniec tritt auf mit einem 80 Meter langen Seil und mit diesem Seil stellt er Dinge an, die man gesehen, gerochen, erlebt, gefühlt und gehört haben muss, um zu verstehen, dass Performancekunst letztlich nicht dokumentiert werden kann. Die Dokumentation des Lebendigen ist am Ende immer nur die arme Verwandte des gelebten Augenblicks. Mit unglaublichem Körpereinsatz schwingt der Künstler das Seil und wirft es zu Wellen, die wie elektrisch bewegt über die ganze Länge der Halle in die Höhe zucken. Alles ist da: Energie, Wasser, das Ferienmeer, die Wellen, in denen Flüchtlinge ertrinken. Man spürt den Luftzug im Gesicht, man hört das Sirren des Seils, als ginge wirklich Strom durch. Man fürchtet sich vor der Kraft des geschwungenen Seils. Der Künstler geht auf ab und ab, man hört ihn keuchen, während er das Seil in immer neue Muster wirft. Wellen, klein und gross. Spiralförmige Trichter. Träge dahin schwappendes Wasser. Wellen vorwärts und rückwärts. Man denkt an die Stromleitungen, die im gleichen Augenblick über die Halle gehen und den Strom leiten, aber das, was man da sieht, ist so viel besser, einfach wunderbar. Je länger man zusieht, desto eher ist man geneigt, an optische Täuschungen zu glauben, so grafisch und geschwind drehen sich die Seilformationen durch die riesige Halle, bewegt von einem einzigen, kraftvoll in der Schulter rotierenden Arm. Und während das Seil durch die Halle zuckt, tanzt immer wieder das Bild vom Krakauer Marktplatz vor meinen Augen mit. Fast bin ich sicher, dass man in Krakau aufgewachsen sein muss, um auf die Idee dieser Performance zu kommen. Man muss die ungewohnte Länge eines solchen Gebäudes schon im Körper haben, anders geht es nicht. So kommt es mir vor. Und ich stelle mir vor, wie Urbaniec das Seil tanzen liesse, in den Tuchhallen des Krakauer Marktes. Über eine Länge von 108 Metern, zwischen den Ständen mit polnischer Wurst und Schafskäse. Ob das wohl ginge?
Anne Sylvie Henchoz (Lausanne/CH) & Deirdre O’Leary (Basel/CH), «River as space»
Die Sonne scheint noch und nun werden wir mitgenommen auf eine kleine Reise in die Umgebung. Am Steuer des Kleinbusses: Anne Sylvie Henchoz. Es können nur sieben Personen mit, man verlässt das Festival, es quetschen sich acht Personen auf die Sitzbänke des Buses, der mit Karacho Richtung Wald fährt, dahin wo die Giswiler Korporation ihr Holzwerk stehen hat. Ohrenbetäubend laut singt Patti Smith «Ghost town». We shall live again. We shall live again. Unterdessen verschmachten die Gäste auf den hinteren Sitzbänken fast. Das Auto stand eine Weile in der Sonne. Ich fingere an der Lüftung herum, aber dann sind wir schon da und werden ins schönste Grün entlassen. Holzstämme bis zum Himmel, das warme Harz verströmt seinen herben Duft. Die beiden Frauen gehen voraus und machen uns zu Zeugen eines romantischen Spaziergangs. Zärtlich und verspielt, die Körper erkundend, gehen sie den Weg entlang, über Stock und Stein und sämtliche Baumwurzeln. Wir gemessen hinterher, ganz froh, einmal aus der Halle herauszukommen. Das viele Grün, die Wärme, das von Blättern gefilterte Licht. Es geht über eine erste Brücke, Anne Sylvie Henchoz markiert den Übergang, indem sie kuriose Dehnübungen macht. Das hier ist das Revier der Jogger. Wahrscheinlich wird das Geländer der Brücke schon mal genutzt, um Wadenkrämpfe zu lockern, aber Henchoz windet sich um die Verstrebungen, halb Sport, halb Ballett, halb absurdes Theater, was sofort den Blick schärft für die ritualisierten Körperbewegungen des Sportes und was eine subtile Komik erzeugt.
Auf einer Lichtung werden wir von Deirdre O’Leary erwartet, die sich zwei kreisrunde Spiegel neben den Kopf hält, wie Ohren fast, in denen sich ausschnittweise der Wald zeigt. Sie spielt mit den Spiegeln, lässt im Spiegel erzeugte Sonnenflecken über das grüne Dickicht wandern. Künstlich erzeugte Effekte, die man sonst nur aus dem Wohnzimmer kennt, wo man vielleicht das eine oder andere Objekt eigens beleuchtet. Dann tritt sie einzeln auf die Gäste zu und zeigt ihnen die Spiegel, in denen die Natur zu sehen ist, die man im Rücken hat: Eine Art gestürztes Höhlengleichnis, das Unsichtbare im Rücken ist gestochen scharf zu sehen, die Spiegelung verstärkt den Zauber des Waldes. Wie kann es sein, dass sich das Gefühl des Wunderbaren verstärkt einstellt, nur weil man es gespiegelt sieht? Hat es mit Immersion zu tun, mit der Urerfahrung, von einem Element ganz umschlossen zu sein?
Vorbei an einer kleinen Waldkappelle, wir halten neben einer Gedenktafel, die flankiert wird von einer Bank. Auf der Gedenktafel ist ein Mann abgebildet, in der Trachtenweste, mit schwarzer Schleife und weissem Hemd. Der schwarze Trachtenhut ist neckisch verziert mit einer weissen Blüte. Es handelt sich um den Jodler, Sänger und Komponisten Ruedi Rymann aus Giswil, geboren 1933, gestorben 2008. Rymann als Sänger war die Verkörperung des berühmtesten Schweizer Volksliedes, des «Schacher Seppli», ein Lied so ikonisch wie sonst nur «S’Vreneli ab em Guggisberg». Schacher Seppli, der um ein Haar seinen Rivalen getötet hätte, verspricht das Liebste, was er hat, nämlich seine Braut. Und so ist es dem Schacher Seppli erspart geblieben, zum Mörder zu werden, aber die Trauer um die verlorene Liebe nimmt ihm alle Fröhlichkeit und treibt ihn durch die Welt als wurzellosen Vaganten. Das Lied erzählt nicht die eigentliche Geschichte, nur deren Folgen. Es ist der ewige Blues verlorener Liebe, der ewige Blues vom Leben, das die Flughöhe des Idealen niemals erreichen kann. Das Leben, das einfach so dahinfliegt in seiner Endlichkeit. Und da, neben der Gedenktafel dieser Volksmusiklegende, schmiegen sich die beiden Künstlerinnen auf der Bank aneinander und übereinander. In einem ebenso rührenden wie bizarren und dynamischen Akt der Gymnastik stützen und liebkosen sie einander, richten sich aus, geben sie einander eine Perspektive. Sie sind sich so nah, dass kaum mehr auszumachen ist, wem dieser Arm und wem jenes Bein gehört. Ineinander verschränkt und verknäuelt stellen sie sämtliche Zustandsmöglichkeiten der Liebe dar, von Unterstützung zu Verstrickung, von Erstickung zur lebensnotwendigen warmen Nähe. Damit bilden sie einen realen Kommentar zur idealisierten Liebe eines «Schacher Seppli». Es hat einen ganz eigenen Witz, diese lesbisch inspirierte Erotik ausgerechnet neben der Gedenktafel eines Mannes zu sehen, der die Schweizer Volkskunst verkörpert hat wie wenige. Es passt, dass Rymann fünf Töchter hatte. Keinen einzigen Sohn.
Wir tanzen im Wald, ich habe noch nie im Wald getanzt. Warum eigentlich nicht? Es ist schön, unter den lichten Blättern zu tanzen. Ganz sicher ist es nicht, was die Künstlerinnen wollen. Ob wir die Bewegungen nachmachen sollen, die sie vormachen oder ob wir selber tanzen können wie wir wollen. Wir tanzen einfach, sogar die Journalistin legt den Block weg und wirft die Arme in die Höhe, lässt sich forttragen von der Musik, ein verschworenes Grüppchen, das schliesslich weiterzieht, hinter den beiden Künstlerinnen her, die uns gelegentlich narren mit plötzlich verlangsamten Bewegungen, so dass das zügige Spazieren zur Slow Motion wird, so dass uns wieder bewusst gemacht wird, dass dies hier Kunst und nicht einfach ein Waldspaziergang ist, den man im eigenen Rhythmus machen könnte. Hinaus aus dem Grün und dann der Schock: ein trockenes, ausgedörrtes Flussbett. Gesteinsbrocken ohne Ende, Endzeitstimmung, Fata Morgana einer toten Welt. Der Eindruck noch gesteigert von Familien, die in dieser Dürre picknicken, unter einem hellgelben Sonnenschirm. Eine andere Familie auf einem grossen Stein, nah am verbliebenen, schütteren Rinnsal. Das ist praktisch, da ertrinkt bestimmt kein Kind. Wir stehen zusammen auf der Holzbrücke, die über diese Einöde führt. Hin und wieder müssen wir zur Seite rücken für die Spaziergänger*innen oder Jogger*innen. Neugierig beäugt von den Familien im Flussbett rezitiert Deirdre eines ihrer zauberhaften Gedichte. The smell of fall is fire/Wet burnt wood/And rotting orange peel/My mother used to tell me, after/Placing her nose into the inner side of/My elbow. Schweigend, dann aber doch leise plaudernd gehen wir durch den Wald zurück, immer noch verschreckt von der Wüste aus Stein. Und während wir in den Bus steigen, denke ich: In welchem Herbst sind wir angekommen? What fall is this fall?
Venuri Perera (Colombo/Sri Lanka & Amsterdam/NL), «What’s love got to do with it»
Es liesse sich nicht leben ohne Vorurteil, ohne die praktische Verkürzung von Erfahrung, die eine grobe Richtung vorgibt, eine Gaus’sche Normalverteilung von Klischees als versuchte Sortierung der Welt. Die Schwarzen sind so und so, die Inder machen dies und das. Die Weissen denken zu viel. Dumm nur, wenn man auf den Vorurteilen sitzenbleibt und sie nicht der feinen Körnung anderer Wirklichkeiten unterzieht. Was mir am Festival gefällt, ist der Begriff des Translokalen, weil er die Erfahrung spezifisch macht. Ein bestimmter Ort, eine bestimmte Schule, ein Mensch mit Namen und Geschichte.
Venuri Perera exploriert in ihrer Performance «What’s love got do with it» die Skalierungen von Fremdsein in einer Erfahrungsamplitude, die von «ganz konkret» bis «exemplarisch» reicht. Die Hebebühne, welche die Künstlerin auf Knien umkreist, ist konkretes und metaphorisches Objekt zugleich. Perera putzt mit einem Lappen – mal hingebungsvoll, mal mit plötzlich aufflammender Wut – die einzelnen Teile der Maschine, die in der Turbinenhalle genutzt wird, um an die Decke zu kommen. Versuchsweise öffnet sie scheppernd Klappen und Schubladen, schraubt an den Stützen herum, horcht den Klängen nach, die sich in der Interaktion ergeben. Immigranten putzen, fangen ganz unten an. «Fangen ganz unten an», allein schon diese Formulierung ist ein Euphemismus, der impliziert, dass dies ja nur der Anfang wäre, dem Besseres folgen würde, aber Tatsache ist: Immigranten bleiben ganz oft ganz unten und werden kein bisschen nach oben gelassen, auch wenn sie sich eine Heidenmühe bei der Anpassung geben. Maschinenkälte, Undurchsichtigkeit der Regeln, Ignoranz als Antwort auf Kontaktversuche. Am anderen Ende dann die Romantisierung, mit der die Einheimischen so gern die Machtverhältnisse kaschieren. «Unsere Perle». «Unser Inder». Die Weitergabe von ausgedienter Kleidung an die «Perle» verschafft den Geber*innen das komfortable Gefühl besonderer Grosszügigkeit. Man hofft, dass die Putzkräfte die Arbeit doch ein ganz kleines bisschen gern machen, weil man doch ein ganz kleines bisschen netter als andere Auftraggeber ist, fast ein bisschen wie eine Familie. Ein bisschen «love» ist da schon. Wirklich?
Perera holt die Dinge mit ihrer Performance vom anderen Ende her ins Bewusstsein und der Effekt ist «chilling». Da arbeitet sich eine ab an einer Undurchdringlichkeit und Kälte, die durch gar keine Handlung zu beeinflussen ist. Du kannst, wenn du lange genug geputzt hast, aufsteigen. Keine Frage, in schwindelerregende Höhen sogar, doch die Ohnmacht bleibt. Resonanz? Fehlanzeige. Nie kommst du an. Auch die Liebe verspricht keine Begegnung, sie ist bloss ein Gegengeschäft im Powerplay der Macht. Kein Feuerwerk der Synapsen, kein Austausch der Freuden. In dieser Welt gibt es nur die Horizontale, oben und unten. Perera kriecht in gefährlicher Höhe über die Maschine, liebkost die Metallteile, erklimmt die Arbeitsplattform, weicher Körper auf Metall. Zieht den Slip aus, rüttelt an der Maschine. Es ist Geschlechtsakt und Kältezittern zugleich. Hier ist die Lebendigkeit der Künstlerin und da die Maschine, die sich die Liebe gefallen lässt. Die Schönheit der Frau ist ein Geschäftswert, der dem Aufstieg dienen mag. Rührung ist keine zu erwarten. Die Verwundbarkeit bleibt. Die Asymetrie in den Bemühungen bleibt.
Der Song von Tina Turner, einer Frau, die alles gewusst hat von den Beschädigungen, die Liebe heissen und die doch nichts anderes ist als die Ausübung von Macht und Gewalt.
Opposites attractIt's physicalOnly logicalYou must try to ignore that it means more than that. What’s love got to do with it?
Die Künstlerin ist erschöpft und die Maschine macht keinen Wank. Aber wir, das Publikum, haben die Körnung einer anderen Wirklichkeit gesehen. Ich bin dankbar, dass ich Zeugin dieser grossartigen Performance gewesen bin.
Alsu Nigamatullina (Russland & Luzern/CH), Aya Masui (Japan & Luzern/CH), Annika Johanna Granlund (Finnland & Luzern/CH), «I don’t want to go as far as I can»
Wir haben gegessen, wir haben getrunken. Laues Septemberwetter, immer noch Wärme. Es passt, in die Halle zurückzukommen und drei Inseln der Traulichkeit anzutreffen. Drei Tischtücher sind ausgebreitet. Auf jedem steht eine kleine Lampe, die angeknipst wird und ausgeknipst. Hier sind drei Welten zu Hause, das Licht scheint auf Gegenstände, die den Bewohnerinnen der Welten vertraut sein müssen. Uns aber sind sie fremd. Auf dem plüschigen, mit üppigen Blumen bestickten tatarischen Tischtuch findet man Süssigkeiten, die «Vogelmilch» heissen. Die Plastikverpackung ist mit kyrillischen Buchstaben bedruckt. Oma und Opa schauen lieb über den Tisch. Ihre Fotos leuchten warm in diese kleine Welt. Auf dem zweiten Tischtuch, hellblau und handgewoben, steht ein finnisches Hackbrett, eine finnische Zeitschrift lädt zum Trekking ein. Auf dem asiatischen Tuch bleibt der Elefant ziemlich alleine, ein paar wenige Gegenstände nur. Keine Ahnung, was das ist. Sehr irritierend, Dinge zu sehen, deren Verwendung man sich nicht erschliessen kann. Haarnadeln? Exotische Musikinstrumente? Man versteht, dass sich die drei Künstlerinnen nur zögerlich nach draussen wagen, im Schutz verhängter Spiegel, die schweizerischer nicht sein könnten. Der Versuch, sich in der neuen Welt selbst zu sehen, misslingt. Der Referenzrahmen ist ein anderer. Wer bin ich noch, wenn die Bezüge plötzlich fehlen oder ganz andere sind? Entsprechend chaotisch ist das Muster, das die drei Künstlerinnen mit ausgerollter Wolle weben. Es gibt Verbindungen, bunt und acrylglänzend schön, aber ob sie auch Sinn machen? In der Mitte dieses Raums, in der Sternenmitte der drei Tischtücher gibt es ein Puzzle, grosse Teile sind schon zusammengesetzt. Das Puzzle hat viele hundert Teile. Mal wird ein einzelnes Teil mit einer Frenesie gesucht, als hänge das Leben davon ab, dass man es findet. Ein anderes Mal packt eine Künstlerin eine ganze Hand voll Puzzleteile lässig ins Portemonnaie. Nun geht es wohl nach draussen, Zuversicht herrscht. Die Lampe wird ausgeknipst. Man wird sich schon zurechtfinden in dieser neuen Welt, schliesslich hat man schon einen Haufen brauchbarer Puzzleteile gesammelt, die ausreichend Auskunft geben über das Gesamtbild. Aber oh, weh! Die Frau kommt zurück und rafft die Puzzleteile wütend aus dem Portemonnaie, schmeisst sie auf den Boden. Das Puzzle als Versuchsanordnung beim Verstehen fremder Welten. Ein winziges Teil in die Hand nehmen. Passt es? Wo passt es? Was ergibt sich aus seinem Anschluss an ein anderes Teil für die Bedeutung des Ganzen? Ist das ein Hundebein? Oder bloss der Schatten eines Waldes? Was kann ich mir erschliessen aus meinen Mikroerfahrungen? Sind sie relevant oder einfach «noise»? Nicht weit vom Puzzle steht ein geflochtener Korb. Dorthin kehren die Wollfäden zurück und von dort gehen sie wieder aus, es ist ein schönes Durcheinander, jesses ja. Ankommen, die Welten verbinden, ist stets eine Arbeit mit unsicherem Ausgang, eine Arbeit, die unvollkommen bleiben muss, die aber ihre eigene Schönheit erzeugt, wenn man Augen hat, zu sehen.
Rhoda Davids Abel (Cape Town/South Africa & Bern/CH), «Rx True Form»
Majestätisch schreitet eine schwarze Frau durch die Halle, das Setting erinnert an eine Modeschau. An diesen gemessenen Wahnsinn, der Gewaltverhältnisse als ästhetische Anekdote präsentiert. Die Models auf dem Laufsteg können sich oft gar nicht richtig bewegen oder nur kurz bewegen, nur diesen kurzen «Run» hinlegen in die mediale Weltöffentlichkeit, um die Benchmark zu setzen, an der jede Frau gemessen wird. Models tragen eigentlich auch gar keine Kleider, eher sind sie verpackt in die Wahnvorstellungen von zumeist männlichen Designern. Eine Frau ist die Vorstellung des Mannes. Diese Frau hier, Rhoda Davids Abel oder wen sie darstellt, wird am Denken gehindert. Die Zehennägel sind besetzt mit grün lackierten Kunstnägeln. Die Frau als Paradiesvogel, vom Kopf bis zur Zehe. Vogelgezwitscher, Idylle pur. Ganz hinten ein umgestürzter Stuhl ohne Sitzfläche. An den Stuhlbeinen irisieren Fetzen von Regenbogenfolie: eine Anspielung vielleicht auf die Heimat der Künstlerin: Südafrika, «the rainbow nation». Um den Kopf trägt die Künstlerin einen Vogelkäfig, die Gedanken sind nicht frei. Idylle und Schrecken, aus dem Off die Stimme der Künstlerin:
This is a brief history of my bodyA brief history and instructions
Ich höre immer wieder «pruned in order to speak»: Zurückgestutzt, um eine Sprechberechtigung zu bekommen. Anweisungen für Schnittmuster, Säume zu nähen mit oder ohne Blende. Die Künstlerin rollt sich in ein Seil, es ist weich und farbig. Es herrscht eine Atmosphäre wie bei Gaugin, wie bei diesem Maler, der die «natürliche» Schönheit, die «natürliche» Verfügbarkeit farbiger Frauen ins Bild setzte und damit die Phantasiewelt des Westens in Flammen setzte. Da kann sich eine an ihren eigenen Normen leidende Kultur erholen und austoben. Doch auf wessen Kosten? Nameless bodies. Nameless echoes. Ich habe neulich einen Artikel im New Yorker gelesen. Es ging um die Menschen, die im Mittelmeer ertrunken sind und noch immer ertrinken und denen kaum je ein Totenschein ausgestellt wird. Nameless bodies. Nameless echoes. Namenlose Körper. Namenlose Echos. Der fehlende Totenschein und die daraus erwachsenden Schwierigkeiten für die Hinterbliebenen. Erschwerte Einschulung der Kinder, weil die Unterschrift des Vaters fehlt und deren Fehlen von keinem Totenschein beglaubigt wird. Erschwerte Grenzübertritte, dito. Erschwerte Erbschaften, dito. Erschwerte Sozialhilfe, dito. Keine Möglichkeit für die Frauen, wieder zu heiraten. My first memories are nightmares of millions of eyes staring at me. Meine ersten Erinnerungen sind Albträume von Augen, die mich anstarren. Diese Frau bewegt sich an der Nabelschnur bunter Vorstellungen. Ihre Stimme klingt nur aus dem Off. Ihre wahre Form ist der Kompromiss.
Find the spaces in-betweenIn the in-betweenOceans away
Moe Satt (Yangon/Myanmar & Amsterdam/NL), «Nothing but fingers»
Es ist schon Nacht in der Halle. Ganz zuhinterst, vor einer weissen Fläche, bewegt sich Moe Satt in einem zur Hose gerafftem Tuch. So viel nackte Haut, so viel Verletzlichkeit. Sein schmaler Körper wirft Schatten an die Wand und wir werden Zeugen, wie der Künstler sich in einen Vogel verwandelt. In einen Vogel mit Handschwingen. Man denkt natürlich an die Figuren, die man Kindern zum Raten als Schattenbilder an die Wand wirft. Ein Hund, ein Krokodil. Und tatsächlich finden sich in den Handspielen von Moe Satt Anklänge daran, obwohl die Handspiele rasch und mit millimetergenauer Präzision in andere, gefährlichere Bedeutungen übergehen. Es ist die Enzyklopädie der Handzeichen, die man braucht, um sich Menschen mitzuteilen, die der Landesprache nicht mächtig sind. Daumen und Zeigefinger umrunden die Augen: das Verb «sehen» wird so inszeniert. Satt faltet die Hände zum Gebet, zum Herzen, zu Greifhaken oder zur ungeduldigen Bewegung: Komm, komm. Alles in atemloser Stille und man versteht plötzlich, wie aufdringlich diese Handsprache sein kann, wie besitzergreifend und keinen Widerspruch duldend. So mit den Händen spricht nur der Einheimische. Der Ankömmling hat zu verstehen, er ist in der Position des Empfangenden. Dialog ist bei dieser rudimentären Verständigung gar nicht vorgesehen. Der Ohnmächtige der Sprache kann sich diesen Händen nicht entziehen, aber auch er bringt seine Hände mit. Satt bewegt die Finger mit der Präzision einer indischen Tempeltänzerin: Teufelshörner, geöffneter Kelch, gekreuzte Hände wie beim Antoniussegen, effeminierte Gesten. Hände und ihre Bewegungen sind Identität, Instrumente der Macht und zu bewegtem Fleisch gewordene Zuschreibungen. Verstehen wir ihr Alphabet?
Am nächsten Tag ist Resonanz. Man trifft sich, um Rückschau zu halten. Es ist ein Familientreffen, die Künstler*innen sind unter sich. Ich bin müde, möchte nach Hause. Auf einem grossen Tisch die Zeichnungen der ukrainischen Kinder. Man fragt ein Mädchen, wie es eine Performance definieren würde. Sie heisst Ewa und ist 9 Jahre alt. Das Mädchen überlegt ein wenig und sagt dann: «Eine Performance ist eine Idee, die man zur Handlung macht, damit man die Idee sieht.» Wow. Und noch etwas beeindruckt mich. Da hat ein Junge – er heisst Rostik - einen gelben Stiefel gemalt, ganz offensichtlich ein Artefakt aus der ersten Performance. Und in diesen Stiefel hinein hat er mit kyrillischen Buchstaben geschrieben: «Niemand ist normal. Niemand ist aggressiv.» Die Buchstaben sehen fast aus wie das Norweger Muster einer handgestrickten Socke.