Lea Dora Illmer: dEr Mittelpunkt der Schweiz
Lea Dora Illmer schreibt im Auftrag des Festivals nach den Performances «Les Sabottes» von Emma Bertuchoz, Thilda Bourqui, Kairaan Kika, Xafia und «River as Space» von Deirdre O'Leary und Anne Sylvie Henchoz vom Samstag, 09.09.23 anlässlich der International Performance Art Giswil — Translokal in der Turbine Giswil.
«wo deine Füße steh’n ist der Mittelpunkt der Welt» (1)
Ich sehe: alles ausser Wanderschuhen, ein Goldkleid, kurzgeschorene Haare, allerhand kleine skizzenhafte Tattoos auf allerhand kleinen bis grossen Körpern sowie Schmuck, sehr viel Schmuck. Spätestens nachdem die Wanderer*innen samt ihrer Multifunktionskleidung aus dem Zug ausgestiegen sind, erkenne ich, dass die darin Zurückgebliebenen ans International Performance Art Giswil fahren. Ich zähle mich natürlich dazu, zu den Zurückgebliebenen, mit meinen orangen Socken und den Lederloafers. «Eine schöne Idee der Verlängerung», nennt Chris Regn mein Fusswerk. Der ATM in Giswil spuckt die letzten 20 Franken aus, danach ist er out of order. Wir – das sind zwei umnächtigte, weil die ganze Nacht lang trommelnde, Künstlerinnen aus Israel und ich – nehmen den Shuttlebus zur Turbinenhalle. Sie ist riesengross, hell, aus einer anderen Zeit oder Welt. Mit dem Eintritt in die Halle betrete ich letztere – jetzt bin ich hier. Neben dem Bach, der Wiese, den Tannen am Hang. «I told you there will be grass and water», sagt die eine Künstlerin zur anderen. Sie legen ihre Köpfe auf den Tisch und schlafen. Bis die Kuhglocke läutet.
Giswil liegt im Kanton Obwalden, ziemlich genau in der Mitte der Schweiz. Wo meine Füsse stehen, denke ich an Element of Crime, ist... Der geografische Mittelpunkt befindet sich im Kleinen Melchtal auf der Älggi-Alp. Zu Fuss bräuchte ich von Giswil aus etwa vier Stunden, um den Punkt zu erreichen. Aber was bedeutet es, den Mittelpunkt der Schweiz zu bilden? Wird Giswil dem gerecht? Oder anders gefragt: Entspricht Giswil meinen Vorurteilen? Sehe ich darin das, was ich sehen möchte? «Sali zämme», begrüsst uns Marius Risi, der Kulturbeauftragte vom Kanton Obwalden, vor der ersten Performance. Er erklärt in seiner Rede, dass die Region nicht immer so nach innen ausgerichtet war wie heute. Der Bruch fand eigentlich erst mit dem Gotthardbau statt, in den 80er Jahren. Zuvor, ab dem 13. Jahrhundert, war Obwalden landwirtschaftlich und kulturell dem Süden zugewandt. Namentlich der Lombardei. Viele der Landwirte sprachen Italienisch, reisten mindestens einmal im Jahr nach Milano. Sie gingen mit Fleisch und Käse, sie kamen zurück über den Brünigpass mit Wein, Reis, Ebly. Der Sbrinz wurde hier erfunden, ein lang haltbarer Hartkäse. «Verbindungen, die wir nicht vermuten, sind da und waren schon immer da», schlussfolgert Marius Risi. Damals war der Kanton Obwalden vielleicht eher Mittelpunkt von Europa als der Schweiz. Wo und wie etwas liegt, liegt in den Augen der Betrachter*in, ist eine Frage der Perspektive.
Die Betrachter*in bin in diesem Fall ich: Lea Dora, benannt nach meinen beiden Grossmüttern, 32 Jahre alt, Akademikerin auf Abwegen, mit einem Loch im Bauch (dagegen Feigen in der Tasche) und einer Hagebutte im Haar (nein, ich bin nicht an einem Busch hängengeblieben). These boots aren’t made for walking. Die erste Performance senkt meinen Blick, lenkt ihn auf den Boden. Schwarz-weisse Kacheln, symmetrisch und wunderschön. Dann blicke ich auf: Von der Decke hängen Stricke, leblose Körper halten sich daran fest (mit einem eigensinnigen, widerständigen Arm? muss ich an Sara Ahmed denken?) (2). Ihre Geschichte ist noch nicht erzählt. Holzschuhe wie Fesseln. Emma Bertuchoz und ihre beiden Mitperformer*innen tragen Schuhe (Stelzen?), die das Laufen verunmöglichen. Zumindest so, wie wir es gelernt haben. Sie stecken fest, sie sind stuck. Im Hintergrund leise Musik. Sind das Kuhglocken, frage ich mich, oder Klangschalen? Und was steht da auf der Stuhllehne? «Schlachthof»?
Die widerständigen Arme beginnen, an ihrem Strick zu rütteln. Der erste, der zweite Kopf heben sich, erwachen zum Leben. Sind es drei Marionetten? Spielen sie oder werden sie gespielt? Die Bewegungen sind abgehackt, mechanisch, die Blicke starr. Erwachen sie? Woraus? Sind das erste Gehversuche? Jetzt stehen alle, wackeln, wandern, wanken umher. Das Schuhwerk ist noch imposanter, nun, wo es in Bewegung ist. Das Publikum verschmilzt mit den Performer*innen, kommt zu (Geh-)Hilfe. Die Marionetten lösen sich von den Fäden, der Schlachthof-Stuhl ist leer. Puppe eins hilft Puppe zwei zu Puppe drei (Zombiewalk?), zu dritt fällt das Gehen sichtlich leichter. Sie sind verbunden, zu dritt wird aus mechanischem Schreiten ein Tanz. Während sie sich durch das Publikum hindurch Richtung Ausgang bewegen, löst sich langsam meine Schuhsohle (und mein Mund ist feigenklebrig). Der Takt wird schneller, ich höre Knacken und Schnalzen. Hier, im vorderen Teil der Halle, hängen Seile mit Schlaufen. Der Tanz wird choreografischer, ein Turnen fast, sie drehen wie verrückt Pirouetten. Auch in ihre Blicke kehrt Leben ein, die ganze Palette: Staunen, Ekel, Belustigung. Die Performer*innen beginnen, mit uns Betrachter*innen zu interagieren, sie imitieren, was sie sehen. Wir werden zum Spiegel, sie zum Spiegelbild. Plötzlich dann der Ausbruch – sie schreiten aus der Turbinenhalle, auf die Wiese, rollen im Gras. Das Setting ist verändert, leichter und lustiger, neben Kinderlärm rollt ein Traktor heran. Die Marionetten steigen auf, fahren winkend davon.
Ob wir Kaffee wollen, fragt uns der Besitzer des BnB Rohrer Giswil am nächsten Morgen. Uns – das sind eine Soundperformance-Künstlerin aus Mexiko und ich. Gerne, antworte ich für uns beide. Ana spricht kein (Schweizer-)Deutsch. Er vertrage keinen Kaffee, sagt Herr Rohrer. Er trinke nur Cheli. Das ist die Obwaldner Variation des Kaffi Lutz oder Kaffi Träsch: Traditionell wird dieser mit Enzian-Schnaps über dem offenen Feuer in einer Bronzeschüssel gebraut und im Mucheli serviert. Ich übersetze händeringend für Ana, weiss jedoch nicht, wie ich Kaffi Lutz erklären soll. Ana wirkt leicht irritiert und etwas angewidert. Als ich später «Cheli» google, finde ich tatsächlich ein Rezept «nach ‘Sennschäli’ Edi Schäli-Schäli 1887-1969»:
«Mein Grossvater, Edi Schäli-Schäli, war Senn und Älpler auf der Chretzenalp, Alpnach und sagte, ein feines Cheli braucht, neben Wasser, sieben Zutaten: Tannenschösslinge, Kaffee, Obst-Branntwein, Zucker, Ankä, Zimt und Muskat. Ich erinnere mich, wie er das Wasser im Kupferkessel erhitzte. Er gab einige junge Tannenschösslinge dazu und in das kochende Wasser etwas Kaffeepulver.»
Der Cheli werde später im grossen, getupften Mucheli serviert. Zum Abschluss gebe er erst grosszügig «frischen Anken», Zimt und Muskat hinein. Ich lese weiter: «Sein 'Obwaldner Cheli' hatte also schöne Augen wie eine Bouillon» und schmunzle. Was für eine Formulierung. (3)
Performances berühren mich im Gegensatz zu visueller Kunst unmittelbarer. Vielleicht, denke ich, weil sie Grenzen auflösen. Zwischen dem Ich und dem Du, der Betrachter*in und dem Betrachteten. Mein Standpunkt, meine Perspektive ist beweglicher, wird in Frage gestellt. Gucke ich noch zu? Oder bin ich längst Teil davon? Diese Fragen verpuffen wie Knallfrösche als ich mich ins Auto setze, um zur Hexenperformance zu fahren. Sie heisst nicht wirklich so, aber ich gebe ihr diesen Namen (hoffentlich darf ich das) (4). Ich habe Deirdre O’Leary einige Wochen zuvor in Glarus getroffen, im Anna Göldi Museum, bei Silvia Federici (über Gossips, Hexen, und Textilien) (5). Es gab einen Erdrutsch, während wir auf der Rückfahrt bei strömendem Regen klatschten und tratschten. Deirdre erzählte mir von ihrem Interesse an der Geschichte Giswils. Schnitt. Zurück ins Jetzt: Die Autofahrt (ohne Gurt) in Giswil reisst mich aus der Erinnerung und aus dem Kritikerinnenmodus. Zuvor habe ich unweigerlich durch diese Brille geblickt. Hatte Mühe, mich gänzlich einzulassen, weil ich wusste: Ich soll doch schreiben darüber (ein vermeintlicher Widerspruch?). Wir hören Musik im Auto, laut, gehört das dazu? Ich fühl mich leicht und lustig. Ich mag die anderen Menschen im Auto plötzlich auf eine vertraute Art (auch der räumlichen Nähe wegen), ist das eine Klassenfahrt?
Wir sind im Wald, stapfen hintereinander her. Etwas zu früh für die blaue Stunde zwar, die Zeit des Übergangs, aber sie ist schon da in meiner Erwartung, ich heisse sie willkommen. «Das blaue Licht der Zwischenzeit wird da gewesen sein», denke ich an Louisa Raspé (6). Das erste Kapitel, ein Satz: «Colours are the wounds of light» (7). Dachten die Performerinnen Deirdre O’Leary und Anne Sylvie Henchoz auch an die blaue Stunde? Eine Wiese, zwei Spiegel, ein Spell:
We hallow the moon and adore the sun. You’re my presence, my companion, Green, Tree, River caress me, nourish me. You create belonging and wonder. (8)
Dann folgt ein Tanz. Aus zwei Körpern wird eine Skulptur. Sie fliessen so sehr ineinander, dass auch diese Grenzen müssig werden (Die Vermengung, denke ich an Julia Weber) (9). Dazu Hexenklänge, ich bin gebannt. Das Flussbeet der Laui ist beinahe ausgetrocknet. Sind wir immer noch in Giswil? Oder längst woanders?
Where is the body? What is remembering? (10)
Fragen sie (fragen wir) uns. Grosse Fragen. Genau richtig für grosse Sommerendhimmel.
Joggende, die umkehren. Ein kleiner Hund (mit Herrchen) und Mountainbiker*innen mäandern an uns vorbei, durch uns hindurch. Für diese Performance fehlen mir die Worte. Mein Zugang ist unmittelbarer. Sie arbeiten so sehr mit ihren, mit unseren Körpern, dass es schön ist und guttut, nachdem ich den ganzen Tag so viel gesehen und wahrgenommen habe. Hier fühle, hier empfinde, hier träume ich vor allem. Hier bin ich Teil, hier tanze ich. Wir geben den Tanz weiter, mit den Händen, den Blicken, wortlos, im Kreis. Zyklisch, nicht linear (ein Hexenzirkel, denke ich erneut an Louisa Raspé) (11). Ich wünschte, unser Tanz ginge weiter, sage ich zu einer der anderen Zuschauerinnen, als wir zum Auto zurücklaufen. Ihr geht es genauso.
Nach dem Frühstück stehlen Ana und ich Äpfel (Mundraub), sie sind sehr knackig und munden, obwohl sie noch nicht ganz reif sind. Der Sommer ist also noch nicht ganz vorbei, er lässt die ersten Äpfel ungern gehen. Zwei junge Buben fahren auf einem Töff-ähnlichen Gefährt und einem monströsen Mountain-Bike an uns vorbei, sie sind gekleidet wie anderswo, sie blicken drein wie anderswo, aber aus ihren Boom-Boxen klingt laute Jodelmusik. Sie verziehen keine Miene. Wäre Ana nicht neben mir, um mir zu bestätigen, dass sie real sind – ich traute meinen Sinnen nicht.
Einige Tage später, nicht länger am Mittelpunkt der Welt, sondern zurück in Basel, denke ich wieder an die Hexenperformance im Wald. Ich möchte wissen und verstehen, was ich bereits gefühlt habe (ein feministischer Bauch spürt, wenn etwas nicht stimmt, denke ich an Sara Ahmed) (12). Was geschah in Giswil an der Laui vor einigen Jahrhunderten? Was für Geschichten erzählen uns Deirdre O’Leary, Anne Sylvie Henchoz und das ausgetrocknete Flussbett? Ich frage bei Deirdre nach. Ich recherchiere. Der Wildbach «Loiwi» (Dialekt für Laui) trat 1629 über das Ufer und zerstörte grosse Teile der alten Kirche von Giswil. Dahinter, so der damalige Pfarrer, müssten Unholde und Hexen stecken. Es begann eine grausame Hexenjagd, die in Obwalden erst 1737 endete. Der Historiker Ludwig Degelo veröffentlichte 2013 gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Heimatkundlichen Vereinigung Giswils ein Buch (13), das diese Geschichte aufarbeitet. Es wurde später als Freilufttheater adaptiert. Was ich noch entdecke: Die künstlerische Verarbeitung der Hexenverfolgung in Giswil hat bereits eine Tradition: Am Performance-Festival 2017 verlasen zwei Performerinnen, Anna Christen und Venus Electra Ryter, den Text «What Are We If Not Pigeons, Part II» von Ariane Koch und Sarina Scheidegger. Und Katharina Brandl schrieb darüber. (14) Verbindungen sind da, denke ich an den Kulturbeauftragten Markus Risi, die wir nicht vermuten. Ich bin ermutigt und dankbar, dass diese Geschichten weitergegeben werden. Durch unsere Körper, Performance-Kunst, das Schreiben. Aber Geschichten beginnen immer schon bevor sie erzählt werden können. Und sie sind noch nicht zu Ende erzählt. Ich denke an Trinh T. Minh-ha, die feststellt: The world's earliest archives or libraries were the memories of women. Patiently transmitted from mouth to ear, body to body, hand to hand. (15) Nicht nur nach innen gewandt, sondern auch nach aussen (wie Giswil vor dem Gotthard-Bau). Von hier aus, dem Mittelpunkt der Schweiz, nach überall.
Fussnoten(1) Element of Crime. «Mittelpunkt der Welt». 2005. (2) Sara Ahmed untersucht in «Feministisch leben!» anhand der Grimmschen Geschichte «Das eigensinnige Kind», wofür ein eigensinniger Arm stehen kann: «Wenn das Mädchen darauf beharrt, ist es eigenwillig. Und sein Arm kommt hoch. Solange eine Geschichte noch nicht endgültig vorbei ist, kommt der Arm wieder hoch.» In: Sara Ahmed: «Feministisch leben!». 2018.(3) Rezept für Obwaldner Cheli hier zugänglich (4) Der tatsächliche Titel der Performance lautet «River as Space». (5) Eine Veranstaltung der Reihe neumarkt gossips(6) Louisa Raspé: «All the good girls go to hell». Zur Widerständigkeit in der Figur der Hexe. Magisterarbeit. 2023.(7) William Blake (8) Deirdre O’Leary und Anne Sylvie Henchoz. «River as Space» (Text). 2023.(9) Julia Weber: «Die Vermengung». 2022. (10) Deirdre O’Leary und Anne Sylvie Henchoz. «River as Space» (Text). 2023.(11) Louisa Raspé schreibt: «So wie die Gemeinschaft (der Hexen) auf jener Kreisförmigkeit aufbaut, ist auch „[d]ie Form des Rituals […] kreisförmig“, ebenso wie der oben erwähnte ökologische Kreislauf. Dieses Bild des Kreises, das auch im Begriff des Hexenzirkels wiederzufinden ist, taucht bis heute in vielen Abbildern der nächtlichen Zusammenkünfte von Hexen und ihren Tänzen auf.» (12) Sara Ahmed schreibt: «Ein Bauch hat seine ganz eigene Intelligenz. Ein feministischer Bauch kann spüren, dass etwas nicht stimmt.» in: Sara Ahmed: «Feministisch leben!». 2018.(13) Ludwig Degelo, Urs Abächerli, Markus Liniger, «Loiwi. Giswil 1629: Der Untergang der alten Kirche, die anschliessende Hexenverfolgung und der Fall der Familie Bergmann», 2013. (14) Der schöne Text von Katharina Brandl ist hier zu lesen.(15) Trinh T. Minh-ha. «Woman, Native, Other». 1989.