Die Fahrt nach Scuol kenne ich, die Sitze in der Rhätischen Bahn, der erste Blick auf die andere Talseite, wenn der Zug aus dem Vereinatunnel kommt. Auch den Bahnhof Scuol-Tarasp kenne ich, den Weg nach Scuol Sot, den unteren alten Dorfteil, Bagnera, Bügl Grond und schliesslich Plaz, den Lärm des Rollkoffers auf den gepflasterten Strassen. Da ist der Anfang, die erste Arbeit dieses Performancetages, etwas noch Unbekanntes.
Ein Schild verspricht CAFÉ ERÖFFNUNG HEUTE! (Olivia Abächerli). Eine grosse Holzplatte steht auf der bancporta an die Hausmauer der Chasa Ajüz gelehnt, darauf das Innere des Dorfplatzes. Nicht der Schotter, der wahrscheinlich unter den Pflastersteinen liegt, nicht der Unterbau des Brunnens, nein, das Innere. Der Platz ist keine Fläche, eher ein Raum. Die Mitte ist der Brunnen, die Wände sind Fassaden der Engadinerhäuser, Fenster und Erker, der Boden sind unsichtbare Wege, zum Brunnen hin, drum herum, zum Museum hinunter, in die Haustüren hinein, zur Kirche hinauf. Die Decke ist Lachen, Gezänk, Stimmen, das Gedachte auf diesen Wegen, über sich und die anderen. Das sehe ich auf der Holzplatte; Linien, Grenzen zwischen verschiedenen Zonen, einer Spekulationszone und einer Selbstbedienungszone. Ich bediene mich an den Spekulationen, denn sonst gibt es nichts, kein Café, welches heute eröffnet und auch der Volg hat über Mittag zu. Das macht nichts, an der Kasse für die Performances bekomme ich ein rohes Ei und etwas Teig in einem Beutel, das kann ich mir um den Hals hängen und mittragen, mit dem Versprechen auf ein Spiegelei; später (Antonia Erni). Es reicht, um aufzubrechen.
Ich weiss, dass das alles zu den Dingen gehört, die schwerlich voneinander zu trennen sind: Die performativen Arbeiten, das Dorf meiner Kindheit, die Wege dazwischen, die ich Zuhause nenne, die Fragen, die unnütz kritischen – was wissen die Künstler*innen von diesen Orten? Was wissen die Performer*innen von den Wegen dazwischen? Was wissen sie von uns, die diese Orte kennen, sie «unsere» nennen? Können sie Romanisch? – meine Einschätzungen, die professionellen und privaten. Ich muss sie nicht voneinander trennen, auch das weiss ich. Schliesslich repräsentiere ich die Scuoler*innen hier, die Einheimischen, was auch immer das bedeutet, und bin nicht bloss als Verantwortliche der Kulturförderung der Lia Rumantscha hier, oder als Mitglied der kantonalen Kulturkommission. Mit alldem und auch als Dichterin bin ich eingeladen hier zu schreiben. Da gibt es nichts, was zu trennen ist und keine professionelle Objektivität, die es zu bewahren gilt.
So in Gedanken verstehe ich erstmal keines der Episignale (Bettina Diel). Rot und grün raucht es aus dem Kirchturm, Stimmen, die singen, nicht singen, etwas erzählen, rufen, ich weiss es nicht. Ich stehe auf dem Friedhof, gehe um die Kirche. Dahinter liegen Sargrahmen, ein Stapel Rahmen für Kindersärge, der andere für Erwachsenensärge. Da erst kommen sie an, die Töne, die grossen Terzen und Quarten, ohne Worte füllen sie die Rahmen aus. Es riecht nach Schwefel. Das ist sie, die Rückseite der Kirche. Ich sehe sie zum ersten Mal.
Auf der Finnenbahn in Gurlaina wird die Ü-Technik, (Praxismodul 1) von DARTS (disappearing artists) nur mehr beschrieben. The artists disappeard already. La Curatissima des Künstler*innen-Kollektivs, Claudia Grimm, wird selbst zur Überbrückerin der verschwundenen künstlerischen Arbeit und der neun verschwundenen Künstler*innen. Sie macht vor, was die Künstler*innen zeigen wollten. «Die erste Person wär jetzt ich», sagt sie, sie, die einzige, erste, die uns die Überbrückungstechniken erklärt, dabei auf uns zurennt und fällt. Ich höre zu, seltsam einig mit den Künstler*innen, die vor der Präsentation ihrer Arbeit abgereist sind. Dann gehe ich weiter, dem Inn zu.
Unter der Punt Tulai ist ein whitespace (Rahel Kraft). Die Künstlerin hängt, gesichert mit Seilen und Karabinern, zwischen Brücke und Fluss. Ihr Gesicht ist weiss, sie flüstert. «Kommen und gehen. Das Rauschen.» Durch ein rotes Rohr dringt das, was sie von diesem Zwischenraum erzählt, zu uns hinauf. Einiges verstehe ich, einiges glaube ich zu kennen, anderes verstehe ich nicht. Der Inn macht eine grosse Kurve hier, würde sie fallen, wäre sie nicht lange zu sehen. Ich denke an mein Ei, das ich an meiner Brust trage, gesichert mit dünnen, weissen Schnüren. Ich berühre es nicht, es wird schon halten.
Auf der anderen Seite des Inns hockt wie ein Insekt Die scheue Brücke (Ortreport, Fabian Jaggi/Katrin Murbach). Sie reicht nicht über den Fluss, taugt nicht für seine Überquerung. Sie schlägt einen Bogen zurück und bleibt für sich. Würde ich sie anfassen, flöge sie davon.
Ich gehe weiter, über die Clemgia, Richtung Vulpera. Nebel kommt aus dem Wald, ein Geist ruft kurz vor dem Dorf (Bettina Diel). Die Dorfstrasse ist verlassen, heiss brennt die Sonne, das Dorf ist eine ausgeleuchtete Kulisse. Ich gebe mich der Erinnerung an das Feuer hin, an das brennende Hotel, wie wir vor den Brandruinen standen, meine Schwester und ich, als man nahe heran durfte, oder als unsere Eltern es uns erlaubten. Wunderschön war es da. Das ist es noch immer, ja, der Park ist noch da, die Pavillons darin. Was sagte der Geist vorhin im Wald? Hier sind die Stimmen deutlich (Jörg Köppl, Linien (Vallader für Anfänger)). «Sta El quia? Wohnen Sie hier? Nein, ich bin auf Durchreise.» Ich bin mir nicht ganz sicher, nein, auf Durchreise bin ich nicht – oder doch? Ich habe einen Schlüssel zur Wohnung meiner Eltern in Scuol, aber das heisst noch nichts. Ich gehörte einmal hierher, verteidige noch immer dieses Tal und seine Bewohner*innen gegen jede Unterstellung, gegen jede romantische Verklärung. Auch das beweist noch nichts. Würde man mir die richtigen Fragen stellen, die wirklich wichtigen für jene, die definitiv nicht auf Durchreise sind, bestünde ich wohl nicht. Mit diesem etwas ungewissen Gefühl gehe ich weiter, den steilen Fussweg vom Hotelpark wieder zum Inn hinunter. Ich gehe ein Stück flussaufwärts, schaue dabei immer wieder auf den Inn – vielleicht mit einem etwas anderen Blick?
Wie die Künstler*innen und Performer*innen schaue auch ich inzwischen von aussen nach innen, auf den Fluss, in den Dorfplatz, auf die Rückseite der Kirche, auf die Brücken, auf das rote Textilband, das jetzt von der hohen Punt d’En Vulpera/Tarasp hängt, im Wind dann fast waagerecht fliegt, unter dem grauen Beton der Brücke, dann wieder vor dem Grün des Waldes, wie die Rhätische Bahn RhB auf der Postkarte (Asi Föcker, Streifen).
In Nairs schliesslich wird mir das Ei abgenommen, es ist später jetzt, die lange Zubereitung nimmt ein Ende. Langsam esse ich das Resultat dieser partizipativen Kunstaktion. Was aussen war, eine Art Ei-im-Teig-Brötchen, geht jetzt nach innen, verwandelt sich. Ich war einige Stunden unterwegs, wohin genau wird sich zeigen. Vielleicht war der Weg von Kunstwerk zu Kunstwerk eine Art Passarelle, eine Brücke auf eine andere Seite von etwas, von einem Zuhause womöglich. Nicht wie Christian Ratti, der mit seinen Erklärungen zu seiner Passerella – eine Brücke wohin? in Berlin Neukölln blieb, auch wenn er da auf einer Grossbaustelle ein Tal, einen Fluss, Abschnitte, Schluchten, Wiesen, Brücken und eine Passarelle fand. Ich kann seinen Erklärungen folgen, jenen über die ursprüngliche Passerella am Kunstmuseum Chur, entworfen vom Lättlipeter, dem grossen Peter Zumthor, über die neuinterpretierte, über die Idee einer langen unterirdischen, die von den Alpen bis nach Berlin reicht, und auch jenen über die Spaziergangswissenschaft. Was ein Vergleich unseres Gangs dem Inn entlang und seines über die verlassene Grossbaustelle spazierganswissenschaftlich wohl ergäbe?
Zum Schluss sehe ich, was mir am nächsten liegt. Zwei Performer. Eine Geste nach der anderen. Den anderen ankleiden, sich selbst ankleiden, ein kleines Haus bauen, einen Boden auslegen, Lücken füllen, eine Brücke schlagen von einem Augenblick zum nächsten, von einem Menschen zum anderen, Utensilien ordnen. Die Künstler wissen, was sie tun. Sie tun es langsam. Geschützt von Wind und Flussströmung und auch von unerwünschten Blicken in der Kunsthalle der Fundaziun Nairs (Porte Rouge, Joa Iselin/Christoph Ranzenhofer, Karabuki).
Es sind Bausteine, all diese performativen Arbeiten, die Wege dazwischen, Bausteine, um diesen Ort weiterzubauen. Ein rotes Rohr, eine scheue Brücke, ein rohes Ei in einem Beutel, schwefliger Nebel im Wald, Stimmen. Es ist immer noch ein Zuhause, Scuol, der Inn, aber nicht nur. Nicht ausschliesslich. Die Brücken führen auch woanders hin, weg von hier. Und immer besteht die Möglichkeit, dass sie nicht bis zur andere Seite reichen, dass sie mitten über dem Inn enden, umkehren, womöglich stürzen, hinter der Flussbiegung verschwinden und anderswohin geschwemmt werden, anderswohin schwimmen, dem Meer entgegen.
Zum Anlass:
ÜBER/BRÜCKEN
kuratiert von Angela Hausheer und Julia Wolf
im öffentlichen Raum zwischen Chasa Ajüz (Scuol), Vulpera, Fundaziun Nairs (Nairs)
Beteiligte Künstler*innen: Olivia Abächerli, Bettina Diel, Antonia Erni, Asi Föcker, Claudia Grimm, Jörg Köppl, Rahel Kraft, Ortreport (Fabian Jaggi/Katrin Murbach), Porte Rouge (Joa Iselin/Christoph Ranzenhofer), Christian Ratti
Zur Autorschaft:
Gianna Olinda Cadonau, Autorin und Leiterin Kultur Lia Rumantscha, Chur
giannaolinda(at)icloud.com
9 www.editionmevinapuorger.ch