Barbara Becker:what do you want to keep*
Barbara Becker plante bei «panch – Resonanz in sprache» über ihre Performance am Sonntag 12.09.2021 anlässlich der International Performance Art Giswil zu schreiben.
Barbara Becker für Barbara Sturm:what do you want to keepüber den Sinn und Unsinn bedeutender Notizen
Zürich - Gleis 70 - 2. Stock - rechts - Atelier 2.23 - zu Gast bei Dorothea Rust
Natürlich ist es interessant zu hören, was die anderen planen zu schreiben und es ist sicher auch für die Schreibenden hilfreich vor Schreibstart eine kurze Idee vom Text vorzustellen. Natürlich! Sicher! Aber heute drängt mich die Idee über mich selbst zu schreiben so sehr von mir weg, dass ich jetzt vor meinem weissen Blatt sitze, vor allem interessiert an den Ideen der anderen. Map? Andrea will über Map schreiben. Was ist Map? Dorothea schreibt einen Deutsch/Englischen Text. Sie fragt uns, ob wir genug Englisch verstehen und sie diesen Text schreiben kann. Mit Dorothea’s Frage taucht mein kleiner Philipp auf, der gestern auf seinem Antolin Account begeistert Englisch gelernt hat. Wie komme ich hier an!? Der Weg hierher war einfach und Dorothea’s Wegleitung brachte mich komplikationslos vor Ort. KOMPLIKATIONSLOS!!? Die Frau an der Tramhaltestelle schreit und weint immer noch in meinem Kopf. Weint sie noch? Schreit sie noch? Sitzt sie immer noch da? Oder wurde sie inzwischen weggeschafft, abgeholt, irgendwo aufgenommen? Alle, die sie gehört haben, haben sie schreien und weinen lassen, niemand hat reagiert. Auch ich nicht. Natürlich wünscht man sich helfen zu können, aber kann man helfen? Kann man helfen, wenn die Not Programm ist. Warum trage ich die Verzweiflung anderer mit? Weil ich auch schreien kann? Weil ich auch weinen kann?Ich drifte immer weiter weg von dem, was ich der Runde vorgestellt habe, zu schreiben…Mir gegenüber sitzt eine vierte Person. Peter plant auch von sich selbst zu schreiben, von gefertigten und nicht fertiggestellten Skulpturen. Natürlich interessiert mich auch sein Thema!
Mein Thema heute: Meine Performance in Giswil. Giswil, das Jubiläumsfestival. Mein Leo drängt sich vor, es geht mir vielleicht wie ihm. Er weigerte sich den Ferienbericht aufzuschreiben und erklärte cool, er hat alles bereits erzählt! /Habe ich das bereits in Bern beim letzten Schreiben geschrieben?/ Das Brennnessel Öl, mit dem ich seit einigen Wochen vor dem Schlafengehen Stirn und Schläfen einöle, tut keinen Zweck. Hildegard von Bingen empfiehlt das Öl, um Erinnerung zu klären und das Gedächtnis zu pflegen. Alles bereits erzählt! Ich habe heute Mittag Simon Etter in ihrem mit Marianne Papst gemeinsamen Studio, Künstlerinnenkollektiv marsie von meiner Performance und vom Jubiläumsfestival in Giswil alles erzählt.
Die Ausrede von meinem Sohn darf nicht meine werden. Auch wenn sie am besten passt. Leo ist der Sohn und ich die Mutter! Es ist schön, wenn sich Eltern und Kinder begegnen und inspirieren. Aber ist es für die Kinder nicht frustrierend und sehr anstrengend, wenn sie so gute Ideen haben, dass sich die Eltern ihre Ideen zu eigen machen!? Wohl entspricht die Kommunikation und Verbindung auf Augenhöhe, vielen aktuellen Erziehungsmodellen. Ich habe meine Bedenken und etwas daran widerspricht mir. Nicht, dass ich besser sein muss wie er! Aber ich finde, es ist besser, wenn ich selbst bin und das Kind eine Chance bekommt, sich selbst zu sein. Meine Unfähigkeit dem angekündigten Plan zu folgen und das weisse Blatt zu überwinden, soll nicht in Seinem den Grund finden. Aber bevor ich mich auf der Suche nach meinem eigenen Grund weiter verirre, versuche ich der Reihe nach die Ereignisse zu schildern:
Judith Huber hat mich angeschrieben, ob ich in Giswil zur Jubiläumsausgabe dabei sein möchte. Ich fühlte mich geehrt und sagte ohne nachzudenken zu, ohne zu wissen, was mein Beitrag sein könnte. Kaum hatte ich zugesagt, spukte mein Hirn Ideen und Vorschläge aus, was ich alles performen könnte. Ich wusste, ich werde auch diesmal wenig oder keine Zeit haben, die Performance auszuarbeiten und vorzubereiten. Dass ich tatsächlich gar keine Zeit gefunden habe, weder den Handlungsablauf durchzudenken, noch passende Kleidung zu wählen und die Haare zu ordnen, wusste ich erst zehn Tage vor der Veranstaltung. Andrea und Judith baten um eine vage Beschreibung. Ich eröffnete ihnen, dass ich zum 24. Jubiläum des Veranstaltungsorts, zum 20. Jubiläum Performance Art Giswil 24 Stunden vor Veranstaltung mit meiner Performance beginne. Ich plante vom Samstag 12h bis Sonntag 12h zu feuern. Das Feuer stand für die vergangenen Jahre, stand für vergangene Veranstaltungen und für die Giswiler Performance Geschichte. Ich spekulierte während diesen 24 Stunden Klarheit über die Handlung meiner Performance zu finden und widmete meine Zeit dem Erinnern und vergangenen Ereignissen.
Da war aber noch eine ganz andere Idee. Patios, die Sprache zwischen den Sprachen. Patios für Performance die Kunst zwischen den Künsten. Eine Ansprache auf Patios? Patios lernen? Ich entdeckte eine interessante Ausstellung in Martigny über Patios. So führte mich Patios ins Wallis, wo mich die Eringerkühe, Kampfkühe in ihren Bann zogen.
Natürlich hatten diese Kühe schlussendlich wenig mit meinem Feuer zu tun und doch sind sie eine treibende Kraft, in den Fluss des Existieren zu kommen, ohne bedeutende Notizen zu hinterlassen.
Im Umstand, dass Zeit zum Einarbeiten und Vorbereiten rar ist, hatte ich die Sommerferien zu nutzen, in denen die Kinder 5 Tage im Lager waren. Eine gute Zeit zum Arbeiten! dachte ich. Ich plante eine Wanderung auf eine Walliser Alp, um die Eringerkühe kennenzulernen und in der Ruhe und Abgeschiedenheit der Alpen, Klarheit über meine Arbeit zu finden. Kinderfreie Tage, da schaltete sich meine Ehemann zu und wollte mich begleiten. Arbeiten an seiner Seite? Oder alleine in die Berge? Ich sagte zu, zusammen loszugehen und legte die Performance mit den Kühen ins Regal. Die Kühe haben wir besucht. Und die Kühe sind umwerfend und einzigartig.
Eben hat der Wecker geklingelt, die Schreibzeit ist fast vorbei. Aber dieses Klingeln drängt mich nicht, vorwärts zu machen und führt mich nicht zu meinem mir auferlegten Auftrag, von meiner Performance zu schreiben, oder von den anderen Performances zu schreiben, sondern zu dem sehr bewundernswerten Timing das die Organisatorinnen eingehalten haben. 100 x 5 Minuten Performances + Festessen, es waren mehr wie 100 Performances. Wie viele waren es? Andrea: «58». OK. 58 Performances konnten in dem genau vorgelegten Zeitrahmen stattfinden. WOW! Andrea! WOW! Judith! Und da war noch eure Performance, die übrigens zu den Performances gehört, von denen ich neben meiner Performance schreiben wollte! WOW! Barbara, in letzter Minute erfüllst du noch eine Teiletappe von deinem Plan!
Judith! Andrea! Eure 5 Minuten! Waren das genau 5 und nur 5 Minuten!? Nicht dass mir die Zeit lange war, ganz und gar nicht. Es war fesselnd. Es war, wie ihr gesprochen habt: O! JA! Ich wusste nicht, dass Judith einen so schönen Rücken hat und ich habe schon lange nicht mehr Andrea’s entzückendes Lächeln auf ihrem Gesicht aufleuchten sehen. Die Frauen nutzten den 60m langen Tisch in ganzer Länge. Eine an der Tischkante auf der rechten Seite, die andere an der Tischkante links an den längs gegenüberliegenden Enden. Sie liefen rückwärts aufeinander zu, sie sahen sich nicht, sie begegneten sich in der Mitte vom Tisch und liefen im selben gemächlichen, bedächtigen Schritttempo auseinander. Oder war’s andersrum? Habt ihr euch zuerst angeschaut und dann den Rücken zugekehrt? Nein! Judith schritt rückwärts vom Tischende aus der Halle in Richtung Tor und Andrea schritt rückwärts vom Tischende auf dem Vorplatz in die Halle. Die beiden Frauen bewegten sich aufeinander zu, trafen sich in der Mitte von dem grossen Tisch. Es kam zum Blickkontakt der beiden Frauen und einem besonderen O! Ah! JA! Judith schritt weiter aus der Halle und Andrea weiter in die Halle. Die Frauen sahen einander, sprachen einander an und gleichzeitig sahen sie uns und sprachen uns an. JA! O! hallte es durch die riesige Halle. Es war herrlich. Es war berührend. In der schlichten Handlung haben die zwei Frauen, mehrere bewegende und interessante Aspekte angesprochen. Sie haben mich angesprochen, sie haben alle Anwesenden angesprochen. /Am folgenden Wochenende konnten wir über die Ehe für alle abstimmen. Wussten die beiden, dass sie eine erstklassige Propaganda Performance hingelegt haben!? ;-)/
Die Zeit ist um und heute, wie so oft ist sie in diversen Zwischenräumen versickert. Es ist mir gelungen Andrea und Judith einen Teil meiner Zeit zu schenken. Schön! Das Jubiläumsfestival Giswil war ein grossartiges, bewegendes Fest, das mich auch diversen Ebenen berührt und sehr angeregt hat. Danke für euer Engagement!
*gefunden auf einem Plakat im Flur vom Atelierhaus Gleis 70: what do we want to keep? RELAX (chiarenza & hauser & co), ETH Zürich Graphische Sammlung 2018