Till Langschied: Decompress to Manifest
Till Langschied schreibt für «Q.u.i.c.h.e.» anlässlich der Marina Abramović Retrospektive im Kunsthaus Zürich bis 16.2.2025.
Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Marina, die gekommen ist, um uns alle teilhaben zu lassen an der Intensität ihres Lebens. Erst spukte die ikonische und bahnbrechende Performancekünstlerin durch London, dann durch Amsterdam und nun war sie für bald fünf Monate im Zürcher Kunsthaus zu sehen – das heisst: hundertfach zu sehen. Bei der Retrospektive einer Performance-Position kommt es fast zwangsläufig zu ins-absurde-kippenden Multiplikationen der kunstschaffenden Person, die mit einer solchen Ausstellung geehrt wird. Performancekünstler*innen sind eben einfach so permanent präsent in ihrer eigenen Arbeit. Deshalb kann Abramović wohl nicht vorgeworfen werden, dass man spätestens in Raum 3 mit seinen endlosen Reproduktionen von Abramovićs Gesicht während ihrer – sie final im Kunstolymp platzierenden – Arbeit The Artist is Present von 2010 im MOMA etwas ermüdet ist von der Abramovićisierung jeder Kunsthauswand.Denn die Kunst ist gut. Gerade die frühen Werke sind schlicht und ergreifend so bestechend durch ihre Direktheit, ihre geradezu rohe Präsenz, sodass sie leicht verzaubern können. Da fallen die vielleicht etwas schlechter gealterten Arbeiten, wie das Tauschen von Rollen mit einer Sexarbeiterin in Amsterdam, oder dem Pillenselbstversuch vor Publikum, kaum ins Gewicht. Es ist völlig klar: hier ist eine der ganz Grossen und wir werden nie verstehen, wie es wirklich war, Abramović beim Waschen von blutigen Rinderknochen auf der Biennale in Venedig gesehen zu haben, wenn wir heute im Museum vor dem Haufen polierter Knochen stehen, welche an diese Arbeit erinnern.
Neben den vielen berühmten, einigen eher unbekannten und natürlich auch den durch lokale Performer*innen reinszenierten Arbeiten von Abramović gibt es im Kunsthaus Zürich auch «eine neue, interaktive Arbeit.» Die Installation Decompression Room ist speziell für Zürich konzipiert worden. Abramović bietet dem Publikum einen langen, schmalen Raum mit Liegestühlen. Wer hier hinein möchte, muss Telefon und Uhr einschliessen und bekommt überraschend gut funktionierende Noise-Canceling Ohrenschützer. Zeitmessungs- und Gehörsinn-beraubt kann man nun aus den grossen Panoramafenstern des Kunsthauses Zürich schauen. Grundsätzlich ist die Installation Decompression Room eine recht lustige Geste: In einer Ausstellung in der alles überbordend, intensiv, schmerzverzerrt, kristallenergetisiert und nackt ist, darf man hier nun einfach mal mit seinen Gedanken alleine sein. Auch wenn die eigenen Gedanken kein ungefährlicher Ort sind, zugegebenermassen, aber immerhin ist mal ein wenig Ruhe im Kunsthaus. Es ist, als würde Abramović sagen, dass das Beste, was wir machen können, einfach mal nichts anschauen ist. Mit dieser Arbeit und auch ihrer am Ende der Ausstellung befindlichen Reis-zähl-Installation kreiert Abramović ein wenig ein self-help Disneyland für Ausstellungsbesucher*innen, die etwas fühlen möchten. Natürlich geht es aber bei diesem Fühlen auch immer um das Aushalten. Aushalten von eigenen Gedanken, von Zeitlosigkeit, von Sinnlosigkeit. Aber dennoch wäre es wohl etwas zynisch Abramović deshalb einfach als Mr. Beast der Kunstwelt zu degradieren. Viele kleine Gesten reichern ihre Arbeiten, so esoterisch und kitschig sie vielleicht auch daher kommen mögen, an zu etwas, das über die das hinausgeht, was andere, inspiriert von Abramovićs Werk, versucht haben. Vielleicht passiert diese Anreicherung auch sogar unbewusst. Vielleicht ist Abramović auch dann am stärksten, wenn sie nicht über ihre eigene Arbeit spricht; wenn das Kunstwerk Abramović sein darf ohne das Hinzutun der Hohepriesterin Abramović.
Was Decompression Room nämlich so spannend macht, ist, dass man aus den grossen Fenstern des Museums nicht einfach auf irgendetwas hinausschaut. Vor den Gehörsinn-beraubten Besucher*innen thront das ehrwürdige Haus, in dem Pro Helvetia seinen Hauptsitz hat. Man starrt quasi aus der Abramović Meditation heraus auf die Schaltzentrale Schweizer Kulturpolitik. Wie bewusst der guten Marina das war, vermag ich nicht zu sagen. Die aufsehende Assistentin wollte oder konnte dazu keine Antwort geben. Das versunkene Starren der Gehörsinn-beraubten Besucher*innen der Ausstellung durchbohrt nun also Pro Helvetia und so scheint dieser Ort, dieser Decompress-Ruhe-Ort, ein idealer Gefechtspunkt zu sein, von dem aus Kunstschaffende Wünsche für Förderungen in Richtung Pro Helvetia manifestieren können. Neben dem Bedürfnis der nicht Kunst-Bubble-Zugehörigen, die vielleicht einfach für neue Eindrücke oder energetische Schübe in diese Ausstellung kamen, ist Decompression Room wie ein doppeldeutiges Labor, welches für die, die wissen was sich in dem Haus vor ihnen befindet, andere Potentiale entfaltet, als für jene, für die der Kunsthausbesuch ein netter, sonntäglicher Zeitvertreib ist. Die reguläre Besucherin dekompressiert, während gleichzeitig die künstlerisch durchs Kunsthaus wandelnde Person vielmehr Hoffnungen und Wünsche in diesem Liegestuhlraum kompressiert und aus der Stille hinaus in das Pro Helvetia Gebäude sendet. Die Energie des Dekompressionsraums kann also sofort energetisch gebündelt und mental auf die Schweizer Kulturstiftung geschleudert werden. Abramović errichtet nicht nur einen Dekompressionsort, sondern auch einen schelmisch kribbelndes Spannungsfeld zwischen den Museumshallen und dem Geld, dass diese verschlucken.
d Q.U.I.C.H.E.