Romy Rüegger schreibt im Auftrag von Revolving Histories über die Events zum Thema «ZUR RADIKALEN GLEICHWERTIGKEIT VON ERFAHRUNGEN» am Wochenende vom 25./26.06.2022 im Museum Tinguely Basel.
Kann ich deine Hände lesen, was würde ich sehen, wenn ich sie sähe, wenn ich sie lesen könnte? Wenn ich wüsste wie sie Berührung, die andere auch Arbeit nennen, geformt hat und wie sie diese Berührung hervorgebracht, andere würden sagen, ausgeführt haben.
Auf Bildschirmen, welche die Performanceveranstaltungen rahmen und die während der gesamten Ausstellungsdauer zu sehen sind, laufen verschiedene Performancedokumentationsvideos gleichzeitig: nebeneinander und übereinander, an rollbare Holzstrukturen angebracht. Das Chronologische der Performance Chronik wird in diesem Moment der Auswahl und des Hervorhebens aufgehoben – kurze Einblicke in Aufführungs- und Inszenierungspraxen verschiedener Generationen von Künstler:innen und Zeitgeistern.
Die vier Performances dieses Abends «der radikalen Gleichwertigkeit von Erfahrungen (Queer, Choreopolitics)» bergen für mich, in diesem Moment, da ich ihre Dokumentation noch nicht gesehen habe, alle diese anderen Möglichkeitsräume: jenseits dessen, was eine Bewegtbildkamera abbilden kann, und was sich anhand dessen nachvollziehen lässt. Performance zu hören zum Beispiel, als Berührung und als Wellen, die sich verfangen, deren Verlauf nicht so genau kontrollierbar ist. Potenzialitäten des brüchig Werdens, des strategisch Unverständlichen, des Verzerrten. Als Frage, als Wunsch, als Orte der Begehren.
Möglichkeitsräume, die dem Archiv des Tatsächlichen aber auch nicht widersprechen, weil sich der Raum der Imagination und der Poetik am Raum der Repräsentation nicht misst. Und die Dringlichkeit der Frage, die dieser Ausstellung und ihrer Archivierungsverfahren zugrunde liegt – wessen Kunstgeschichte von wem geschrieben, von wem ausgewählt und überliefert wird, in welchem Verhältnis Archiv und Präsentation, als front- und backend stehen – weder ergänzt noch konkurrenziert.
Ich stelle mir vor, der Nachhall der Stimmen, der Klänge, der Bewegungen und des Gesprochenen des Abends, würde sich unter der Museumsdecke sammeln. Wer weiss schon, was die Dauer einer Klangwelle ist, wo eine Bewegung anfängt und wo sie aufhört – in der Erinnerung, die auch eine Vorwegnahme sein kann.
Die Sphinx sein. Die ruhende Figur. Die Tarotkarte. Die Kaiserin. Die Skulptur von Niki de Saint Phalle. Die Körperlichkeit erweitern. Die Entfaltung des Schmetterlings sein. Anhand von Fäden sich verbinden und ausbreiten, in einem gemeinsamen Spiel.1)
Natürlich ist jede Erfahrung anders. Ich sage natürlich, weil es einleuchtet. Und weil ich mich mit dem Titel des Abends beschäftigen wollte, damit, was mit «radikaler Gleichwertigkeit» gemeint sein könnte.
Ein Wunsch, ein Begehren, eine Ansage, ein Zusammenschluss aus sich widersprechenden Wörtern? Ein Versuch der Versöhnung oder ein Handeln in Widersprüchen, entlang gesellschaftlicher Bruchlinien, die zu glätten das Gegenteil von Radikalität meinen würde?
Oder beschreibt er noch viel allgemeiner, eine Kritik an der aufklärerischen Idee der hierarchisierenden Unterteilung in denken und fühlen, in Kopf und Körperwissen. Eine Gegenansprache an die Universalismen der eurzentristischen und antropozentrischen Moderne und die dabei wirkungsmächtigen Auslöschungsmechanismen, ganz besonders nicht-weisser und nicht-cis-männlicher Subjektivierungen, Erfahrungswelten und künstlerischer Positionalitäten?
«Wohin mit den Gefühlen», wo wo gehen sie hin. Die glatten Wände, die Glasflächen des Ausstellungsraumes lassen die Frage in alle Winkel springen. Schnell steigt sich die singende Stimme in die Höhen, und beharrt umso länger auf der Frage, wiederholt sie, erkundet den Raum damit. Die Opernsängerin sein, die sich einsingt und auftritt zugleich. Die Wut und die Verzweiflung, die sie transportiert und immer dann schon wieder zurücknimmt, wenn man denkt, dass sie jetzt gleich noch drastischer auftreten wird: Das Antippen der Gefühlsregister und die damit verbundenen Figuren der bürgerlichen Hochkultur. Die sich der Verzweiflung Hingebende, hier als Aneignung und als Spiel mit den Aufführungsmodi der Gefühlswelten vergeschlechtlichter, weiblich konnotierter Rollen-Klischees.
Komplimentierend und als Veräusserung des Leidens des männlichen Künstlergenies, dessen Erfahrung eine benannte ist. Die familiäre Ablehnung der queeren Sexualität und des Künstlerseins, als «Biest», dem zugleich eine weisse Mehrheitsgesellschaft gegenübersteht.
Der Text auf dem Notenständer sein, die Blätter, die als nonchalante Tränen der Lust und des Leids, auf den Boden schweben, sobald sie gelesen sind.2)
Ich stelle mir noch einmal vor, das Zeit-Raum-Kontinuum des Abends wäre ausgehebelt. Das Nachklingen der Performances, findet dadurch seinen Nachhall in einer Gleichzeitigkeit, in der einzelne Momente dieser jeweiligen Kammerspiele miteinander in Schwingung geraten, andere gegeneinander klirren.
Der Park des Museums wäre dabei ein Garten, mit einem kleinen Tannenwäldchen, das zum Tatort wird. Daneben unberührt, der Schrottbrunnen und die Schwimmerinnen, den kleinen Weg zum Rheinzugang in Plastikschlarpen hinuntergehen.3)
Einige der Klänge haben sich also ganz weit oben, unter der Decke des Museums fest gehangen. Das Weinen, der Schmerz, die Gesänge, die dort ihren Weg durch die Lüftungsschächte suchen, weil sich die Geschichte des Individuums, nicht vom einen auf den anderen Tag verkehrt.
Die leise raschelnden Flügelschläge des gemeinsam gebildeten Schmetterlings, ich glaube, sie bewegen sich in etwa auf der Höhe der stehenden Wellen im Raum, immer dort, wo die Klänge etwas länger verweilen. Dort, wo die institutionellen Bedingungen des Museums als Betrieb, von der Zeitlichkeit des Erfahrenen auseinander liegen können und die Choreopolitiken der einzelnen Performances als Ahnung gegen einander laufen.
Auf einer kleinen Bühne mit Tisch, bereitet Anne Käthi Wehrli, die Auflösung des Raums der Performance und die des Publikums vor. Eben noch, waren wir bei ihr zu Hause, an ihrem morgendlichen Frühstückstisch, und den möglichen Cafés, die zu solchen Tischen werden könnten. Wir gleiten über, zur Kaiserin, aus dem Tarot Garten von Niki de Saint Phalle. Was bräuchte es, um diese Skulptur zu sein, diese sphinxhafte, wohlige Pose. Ein rotes Kleid, das ich aus einer früheren Performance wieder erkenne. Und die Hilfe der Zuschauenden, die das Kleid mit unsichtbaren Schnüren mittragen, ihm eine erweiterte Körperlichkeit geben, die Spannweite des Stoffs ausreizend, den Bewegungen entlang. Nicht nur in ihrer Vorstellung, die sich dem Gesagten entlang die beschriebene Pose vorstellen, sondern als tatsächliche Kleidträger:innen.
Weit weg sind wir in diesem Moment, in einem glänzenden und schillernden toskanischen Garten, mit begeh- und bewohnbaren Skulpturen, voller ungebrochener Weiblichkeitssymbole, in denen die rahmenden Bedingungen des Abends umgedreht sind. So wie wir während der Performance durch die Glasscheiben des Museums über Werke Tinguely’s hinweg, auf eine Skulptur Niki de Saint Phalle’s blicken, in dieser Umkehrung des Gastrechts, der Aufmerksamkeit, der Kontextualisierung, wer in wessen Kunstgeschichte, in wessen Haus, in wessen Museum eingebettet wird.4)
Und das ist vielleicht das Chronische, was diese Saga abbildet, die sich als Flimmern der Vielen, im Hintergrund der für den Abend ausgewählten, ausbreitet: dass die Veränderungen möglicher Sprechpositionen so langsam, so zäh, so unlinear übergehen, überstehen. Die singende, weinende, schwebende, anschreiende, sitzende, liegende, tanzende Figur, die sich mal da, mal dort, bekleidet, verkleidet, oft auch nackt, mit anderen und anderem verbindet, mit Sprache und Gegenständen, Mitauftretenden und Settings über die Bildschirme bewegt, im Versuch einen Kunstbegriff zu entwickeln, der einen Weg nebst dem Markt der Dinge, der Bilder und der Begrifflichkeiten und dem Betrieb des Aufführens, des Wiederholens und Tournierens entwirft. Wo Repräsentation und Verkörperung queer verstanden, sich choreopolitisch widersprechen können. Wo Versuch, Geste und Experiment sich gegenseitig erzählen.
Ich stelle mir den Abend, als Differenzerfahrung vor. Mit der Möglichkeit der Ungleichheit.
Eben noch war ich Wurm und Parasit, eine allwissende Erzählerin, die von einem Jagdhochsitz aus, seine Stimme spricht. Ein kleiner Chor, ein Beatboxer, die das Stück zum Singespiel, zur untermalten und vertonten Abfolge von Erzähl-Handlungen zu Co-Existenz und körperlichen Abhängigkeitsverhältnissen werden lassen. Performancevokabular und Zählreime sein, sie untermalende Bewegungen, die auf einen erweiterten Raum von Beitragenden übertragen werden.5)Eben noch war ich Schmetterling, zusammen mit den anderen Anwesenden, den Papieren und den Schnüren.6)
Und dann bin ich Kostüm, bin ich Künstler und Poet, bin ich «Biest». Die Stimme klatscht gegen die weissen Wände, springt spitz von der Hallendecke zurück, ganz entgegen der Gemütlichkeit, mit der eben noch das Abspritzen und Ablecken beschrieben ist.
Wo gehen die Gefühle hin, wohin, wohin.7)
Romy Rüegger, Museum Tinguely, Basel, 25.6.2022
1) Notizen zu «Spiderweb of leisure», Anne Käthi Wehrli2) Notizen zu «BEAST!», Tarke Lakhrissi mit Makeda Monnet und Victor da Silva 3) Notizen zu «Pièce distinguée n°45», La Ribot, performt von Piera Bellato und Thami Manekehla4) Notizen zu «Spiderweb of leisure», Anne Käthi Wehrli 5) Notizen zu «Die Symbiotisten», Julia Geröcs & Gabriel Studerus mit Manel Salas, Kuan-Ling Tsai, Marie-Theres Hölig, Nello Novela, Eleonora Vacchi, Christina Campsall, Ruben Monteiro Pedro6) Notizen zu «Spiderweb of leisure», Anne Käthi Wehrli7) Notizen zu «BEAST!», Tarek Lakhrissi mit Makeda Monnet und Victor da Silva