Noëmi Niederberger:Kämpferisches Liebesspiel
Noëmi Niederberger schreibt auf Wunsch der beteiligten Künstlerinnen nach den Performances von «Doce en Diciembre» am Freitag 15.10.2021 im Kasko Basel.
Der Raum im KASKO ist unterschiedlich eingenommen, gefärbt, geprägt durch die zwölf Künstlerinnen. Die Besucher:innen mäandern durch die hängenden, stehenden, sich wiegenden, flimmernden Ausstellungsstücke, gruppieren sich, lachen, schwatzen, lesen.
Perspektive I ZeitJazmín Saidmann, The time that we have — partizipative Performance
Zwei Stühle - ein Viereck aus rotem Klebeband dem Boden entlang - ein Gespräch. Jazmín Saidman öffnet den magischen Zeitraum für die Besuchenden und fragt nach: Was ist Zeit für Dich? Wann wurde sie Dir zum ersten Mal bewusst? Magst du die Zeit? Wärst du gerne unsterblich? Brauchen wir die Zeit überhaupt? Wie wäre die Menschheit ohne Zeit? Ich fühle mich zeitvoll auf dem Stuhl, ihre Fragen tragen mich zu meiner Sehnsucht nach Zeit-Losigkeit, der Zeit-Raum wird durch die roten Bänder eingefroren, in den Moment gegossen. Die gezeichneten Uhren an der Wand und Jazmín Saidmans volle Aufmerksamkeit lässt die Umgebung verschwinden. Fluide Unendlichkeit.
Perspektive II SichtbarkeitBarbara Naegelin, Amar Jugar Luchar — mit der Teilnahme von Doce
An Orchestra of Doce. Die Künstlerinnen stellen sich im Kreis vor ihren Werken auf, sie tragen Gitarren, Banjos, Bässe, Weinkartons, Schöpfkellen. Wir, die Schauenden, werden von ihnen eingeflochten. Es wird still im Raum. A heartbeat starts Barbara Naegelin dirigiert. Der Herzschlag, der Beat nimmt zu, der Bass trägt. Der Chor der Zwölf setzt ein - ein Frauenraunen, ein weibliches Rauschen. Juntas somos visibles - Gemeinsam sind wir sichtbar Aus fühlig feinen einsamen Figuren mit Instrumenten verstreut im Raum, wird atmende Verbundenheit, die alle umschliesst, einbindet. Wiegende Körper, wippende Zehen, konzentriertes Sprechen über dem gemeinsamen Herzschlag. Try again - fail again - try better. Ukuleles setzen ein, feine Töne schmiegen sich in den Rhythmus, das Weinglas schwingt mit, der Raum und die Menschen darin beginnen zu vibrieren. Jede der Doce spricht allein und im Kollektiv, ein Mantra, eine Ermutigung, ein Ermüden, ein Beobachten der Sichtbarkeit des Weiblichen im Raum.
Angst vor Vergänglichkeit Angst vor dem Versuch, dem Fehler Angst vor einem plötzlichen Ende Angst vor Unsichtbarkeit Angst, nicht gehört zu werden Die Angst wird ausgetrieben
II: AMAR JUGAR LUCHAR :II // wir sind sichtbar, wir sind hörbar, wir stehen um euch, mit euch im Kreis und sind laut, im gemeinsamen Herzschlag, im Sprechen, im Auftritt, in der Besitznahme von Raum und Zeit // // gemeinsam sind wir hörbar // II: AMAR JUGAR LUCHAR :II
Gänsehaut ringelt sich meinen Beinen entlang empor und erfasst meinen Unterleib, mein Herz, meine Stirn, fast setze ich mich in Bewegung, das Wiegen erfasst den Raum, ein Körper wird geboren aus den vielen. Der Beat ist nun wild, der Chor entblösst, kraftvoll erfasst das Kollektiv der Zwölf die Knochen, Zellen, Haare, Zähne und Blicke, Barbara Naegelin springt im Raum, vollführt das Ritual. Wir Besucher.innen waren Schauende, nun sind wir Sprechende.
Perspektive III Bewusstsein oder Questions With SubtitlesBelén Romero Gunset, The Lesbians — mit Chris Regn und Gisela Hochuli
Belén Romero Gunset steht vor ihren gesammelten und an die Wand gehängten Fragebögen in einer leuchtend roten Bluse, flankiert von Chris Regn zu ihrer rechten und Gisela Hochuli zu ihrer linken Seite und stellt uns ihre Forschungsarbeit vor. Sie befragt seit Ausstellungsbeginn Menschen: «How lesbian are you?», die Auswertung findet anhand von einem 12-teiligen Fragenkatalog statt, den sie uns nun an ihrem Testimonial Gisela Hochuli vorstellt - mit der Kommentatorin Chris Regn, die Ausführungen zu den Fragen und den Antworten sowie Anmerkungen oder historische Beobachtungen dazu gibt. Die Fragen, Antworten und vor allem die teils geradezu satirischen Kommentare lösen zustimmendes Schmunzeln, Lachen, manchmal aber auch betretenes Füssescharren, Unbehagen, Wiedererkennen aus. Spannung - Anspannung - Entspannung Die Intimität und die Tiefe der Fragen nehmen zu, Verunsicherung und Scham, Erröten, Verletzung, Diskriminierung, Trauer, Kampf, Selbstverständnis, Galgenhumor. Verrat durch Verurteilung // Sichtbarkeit durch Kommunikation // Nähe durch Humor und Faktizität. Die Zuschauer:innen, stehend, sitzend - sind unmittelbar dabei, Emotionen werden sekundenschnell verteilt, erfassen mich wie Wellen, spülen mich durch.
Perspektive IV VerbundenheitMaja Lascano, Amuletos — mit Belén Romero Gunset, Paola Junqueira, Luján Funes, Monika Dillier, Jazmín Saidman, Andrea Saemann, Barbara Naegelin
Maja Lascano schlüpft in einen von der Decke hängenden Blütenkelch. In der Halbverborgenheit der schwingenden, langen, hellen Blütenblätter aus Stoff gleiten ihre Kleider hinab, sie tritt heraus in hautfarbenen Leggins und Shirt, entblättert, scheinbar nackt. Barfuss kniet sie vor den aufgehängten Amuletten an der Rückwand des Raumes, gespiegelt und verbunden durch Monika Dilliers Zeichnungen. | Ein Triangelschlag - ein leises Gebet |
Belén Romero Gunset tritt zu ihr, ihr wird das erste Amulett überreicht - ein kurzer Umhang bis über die Schultern aus schwarzem Garn, einem Spinnennetz ähnlich. Maja Lascano zieht dasselbe Amulett in weiss an. Sie schliessen beide die Augen, bewegen erst tastend die Arme, die Hände, ermessen den Raum. Folgen bald unsichtbaren Linien, unsichtbaren Bändern im Raum, werden bewegt durch das Unsichtbare, gehen ihm nach. Belén Romero Gunset öffnet als erste die Augen, hängt das Amulett zurück und beobachtet mit uns gemeinsam Maja Lascano, atmet mit ihr, bleibt bis auch sie wieder zurückkommt. Die Zuschauer:innen, welche noch an der Rückwand auf der Höhe der Amulette standen, ziehen sich zurück - diese Wand gehört gerade jetzt nur den Doce. | Ein Triangelschlag - ein leises Gebet |
Paola Junqueira löst Belén Romero Gunset ab. Ihr Amulett liegt nah am Hals, wie pharaonischer Schmuck, ich finde es passt ausserordentlich zu ihren ausgeprägten hohen Wangenknochen - Nophretete erscheint mir im Raum. Maja Lascano und Paola Junqueira nehmen zwei Palmblätter und stellen sich in Form auf: Kriegerinnnen, Maja Lascano führt die Bewegung, die Blätter werden für mich zum Abbild der Natur in ihrer Mitte, von ihnen zunächst behütet, dann zeichnen sie Zeichen zu unser aller Schutz damit über den Boden. Hernach werden die Blätter zu Fächer der Liebe, der Zuneigung. Von Freundschaft und Nähe erzählen sie, während sie weich über den Körper der jeweilig anderen streichen. Ergriffenheit steigt in mir empor. Meine Liebsten sind bei mir am Herz. | Ein Triangelschlag - ein leises Gebet |
Luján Funes tritt herbei, für sie ein Geschmeide auf Herzhöhe, der Kern aus Gold. Sie gehen zu den Panuelos Rojos - Luján Funes roten Tüchern, nehmen je eines auf, nennen den Namen, hängen sie an die Wand dahinter. Mit Wäscheklammern an Seile. Trauer. Verlust. Totennamen. Todesdatum. Husten im Publikum, verlegenes Zurseiteschauen, Stiche im Herz, Tränen in den Augenwinkeln. Eine lange Umarmung erlöst auch die Stimmung im Raum. Juntas somos visibles. | Ein Triangelschlag - ein leises Gebet |
Monika Dillier erscheint, beide barfüssig, strumpffüssig - flamingorosa das Amulett, federleicht, quirlig. Ein Tuch wird ausgebreitet vor den Amuletten, sie strecken sich gemeinsam darauf aus, schauen an die Decke, räkeln sich. Ruhe, Zufriedenheit, Gelassenheit, gedankenverlorenes Spiel mit den blattartigen Ranken der Amulette, Neugierde, die Sonne beginnt zu scheinen, ein Nachmittag im Park, gemeinsames Schweigen, Frieden. Ich schaue gerne zu, den Fussstreckungen, den weiten Blicken, der sich entfaltenden Stille. Fast alle Zuschauenden sitzen nun, legen sich selbst hin, werden Teil des gemeinsamen Ruhens. Dann chüschelen die beiden, kichern, stecken die Köpfe zusammen. Ich gönne es ihnen - neidlos. | Ein Triangelschlag - ein leises Gebet |
Nun wird gesprochen - Jazmín Saidman erhält eine kugelige Kette und sie setzen sich in Jazmín Saidmans Zeitraum, pflücken Amulettbestandteile, Käse, Pralinen, Datteln, knabbern, sprechen, lachen. Süsser Genuss des gemeinsamen Essens, des gemeinsamen Zeitverlierens, des Austausches. | Ein Triangelschlag - ein leises Gebet |
Zeuginnenschaft - Freundschaft. Andrea Saemann erhält ihr Amulett von Fingerrist zu Fingerrist und so schweben die beiden Amulette zu einer Wasserschüssel in der Mitte des Raumes und pendeln alsbald über einer Schale mit Wasser. Maja Lascano und Andrea Saemann sind fokussiert auf die Pendel, lassen sie eintauchen, abtropfen. Sie sprechen über das letzte Mal, dass sie beide geweint hatten. An ihrem Amulett lässt Andrea die Wassertropfen wie Tränen hinab gleiten, öffnet sich im geschützen Raum des Wasserkreises und erzählt von einer E-Mail, die sie erschüttert hat, darob sie aber erst im Beisein von engen Freund:innen weinen konnte. Ihre Freund.innen empfahlen ihr Wut aber sie war traurig und konnte diese Trauer in ihrem Beisein ausleben. Auch Maja Lascano erzählt nun, von einem bösen Streit mit ihrem Liebsten, in dem sie ihre Trauer zunächst hinter Wut und Provokation versteckte, um ihre Tochter zu schützen. Ihr Pendel - Amulett liegt im Wasser, die Tränen sind dort verborgen. Die Offenbarungen von Trauer gehen nahe, sind intim und die perlenden Tropfen rinnen mir meinen Brustkorb hinab und nässen meine Rippenbögen. Nicht nur Feuer und Gespräche auch am Wasser scheinen wir uns zu verbinden. | Ein Triangelschlag - ein leises Gebet |
Barbara Naegelin tritt zu Maja Lascano, das Amulett schwarzweiss wird Barbara Naegelin auf die Brust und Maja Lascano auf den Rücken hin angelegt, zwei iPods werden hervorgekramt, eingestöpselt und gemeinsam auf Play gedrückt - der stille Tanz beginnt. Rumba, Salsa, Tango - Fluss, Rhythmus, Frohsinn, Hingabe, Ausdruck, Mitsummen, lachende Gesichter überall. Manchmal verdecken mir die hängenden Blütenblätter die Sicht, dann höre ich nur ihren Atem, auch der tanzt. Lebensfreude. Musik in den beiden sich wiegenden Körper erfüllt den Raum. | Die Amulette sind zur Hälfte verteilt - Ritual Ende |
Perspektive V FormGisela Hochuli, Bermuda
Gisela Hochuli tritt, eine Papiertüte im Arm mit aufgemaltem Dreieck, in die Mitte des Raumes. Sie begeht ihn in Dreiecken, ein unsichtbares Netz entsteht - Ariadnes Faden entfaltet sich im Labyrinth. Der Tüte entschlüpft ein grüner Pullover, über und über mit kleinen weissen Dreiecken aus Papier bestückt. | um die Dreiecke herum | zwischen den Dreiecken hindurch | Trennung, Zerfall, Verschnitt, Zuschnitt, Linien, Kanten. Der Pullover wird von Gisela halbiert mit der Schere, eine neue Form entsteht - Dreiecke werden zu Vierecken, Undefinierbares zum Kreuz, am Boden liegend. Gesichtsrahmen, Harlekin - die Dreiecke flattern an den Assoziationsrändern entlang, gewinnen durch Giselas Spiel, mal ruckartig, mal federleicht an Leben. Dann werden sie zum Bodenlumpen, zerknittert, scheuern sie als Schattenwurf zwischen ihren weissen Rändern ihrer eigenen Form hinterher. Chaos, Unterdrückung. Dann werden sie von Gisela Hochuli zu einem grossen Dreieck gefaltet, geordnet, dem Boden enthoben, aus der Scham und der Verdeckung zur sichtbaren Vulva auf ihren Unterleib gelegt - sichtbar, als starke Form des nach unten zeigenden Dreiecks. Zum Schluss wird das Labyrinth der Formen an der Säule in der Mitte aufgehängt - die Flagge ist gehiesst, wie mir scheint.
Perspektive VI Farben oder the Way to Carry a Dead Name Andrea Saemann, Die Geschichte der Tücher in Argentinien
Andrea Saemann tritt an den Tisch, mit den von Luján Funes und weiteren beschrifteten Tücher. Die roten Tücher tragen die Namen der seit Januar 2021 Femiziden zum Opfer gefallenen Frauen in Argentinien und der Schweiz. Die Stapel sind hoch. Andrea Saemann erzählt von dem Problem der Doce mit der Idee von Luján Funes, die Panuelos Rojos und damit die Namen der toten Frauen auf ihren Köpfen während einer Performance zu tragen. Sie haben sich verschiedene Arten des Tragens überlegt, die uns Andrea vorführt: Das Bandana Das Marktfrauentuch Das 50er Jahre Cabriolettuch Das Oberschenkeltriangel Das Pfadfindertuch, obwohl dieses einfarbig gar nicht existiert Das Handgelenktuch Das Rucksacktuch
Das zweite Problem ist die Farbe Rot. Für Andrea symbolisiert es den Kommunismus, für mich die Bandiera Rossa der anarchistischen Kämpfer:innen in Italien und ihre hängenden Körper an den Bauerngehöften, die meine Nonna damals auf dem Schulweg verstörten. Für Luján Funes ist es zudem von der Form so: 🔺 für Andrea so:🔻 [Anm. der Verfasserin: mit den Zeichen wird versucht, die starken und eindrucksvollen Handbewegungen von Andrea Saemann während ihren Erläuterungen darzustellen] Es braucht also kulturelle Übersetzung der Geschichte der farbigen Tücher in Argentinien
1976 trugen die Mütter panuelos blancos - weisse Tücher, für ihre verschwundenen Kinder 1990 trugen die Frauen panuelos in Violett - Feminismus 2003 dann grün - Kampf für legale Abtreibung 2003 auch gelb - Kampf für die Trennung von Kirche und Staat Später dann celeste - himmelsblau - Kampf gegen legale Abtreibung
Luján Funes führte dann das rote Tuch ein - mit dem Dreieck nach oben - das Rot nicht für Kommunismus sondern für das vergossene Blut der Frauen, die Opfer von Femiziden wurden, nach oben der Spitz, weil es die Justiz ist, die im Namen der Opfer dazu aufgefordert wird, endlich etwas gegen die lasche Rechtsprechung gegenüber den Tätern zu unternehmen. Luján luchas - Luján kämpft. Die kraftvolle Arbeit gegen Unrecht und Unterdrückung wird von Andrea Saemanns kraftvolle Sprache und Gestik zu einem eindrucksvollen Abschluss der sechs erlebten Performances.
Das Projekt Doce en Diciembre mit Performances von
Jazmín Saidman, The time that we have (partizipative Performance)Barbara Naegelin, Amar Jugar Luchar (mit der Teilnahme von Doce) Belén Romero Gunset, The Lesbians (mit Chris Regn und Gisela Hochuli) Maja Lascano, Amuletos (mit Belén Romero Gunset, Paola Junqueira, Luján Funes, Monika Dillier, Jazmín Saidman, Andrea Saemann, Barbara Naegelin) Gisela Hochuli, Bermuda Andrea Saemann, Die Geschichte der Tücher in Argentinien