Julie von Wegen:Give me something specific! And let’s keep it, let’s keep something specific.On keeping things and losing track
Julie von Wegen schreibt im Auftrag von Revolving Histories über das Event «COME AND SHOW – Performance all day long» am Samstag, 06.08.2022 im Museum Tinguely Basel.
Ich stehe auf dem Platz, der Wiese, im Park, bin noch ein bisschen verschlafen und lostund weiss, ich werde heute etwas festhalten
Ich taumle noch schlaf- und nicht kaffeetrunken umher und sammleerste Freude, erste Begeisterung und Irritationich sehe eigensinnige Verträumtheit und ein überspitztes Performen – Leistenund vielleicht ist unklarer als angenommen, was was ist
Dann gehe ich über, laufe überin einen Versuch von geplantem Vorgehen: Ich habe erfahren, es gibt ein gedrucktes Programm (dieser Versuch wird nicht lange halten)
Nicht etwa, weil ich in kurzer Zeit schon den Plan auf Papier begriffen hätteSondern, weil eine nette Person mich darauf hinweist dass es da drüben gleich eine Führung gibtkomme ich dazu, denke mir, Mitlaufen ist gut für den Einstieg
Léo Wiesendanger sagt ein paar einleitende Worteirgendwie auf eine gute Art autoritärberuhigende Bevormundung in diesem Überangebotso etwas wie: Ihr werdet mitlaufen und zuhören, aber schauen könnt ihr irgendwohin, nicht auf michdem folge ich und ziemlich am Anfangstellt Léo festDie Welt, ja die Welt ist verrückt
Und wir gehen ein paar Schritteund ich hänge aus, fädle mich aus der losen Gruppe ausweil Hadfiza Asmal Valodia einfällt und sagt:They thought they could own the sky, own the sea… that’s what it’s like, witnessing this crazyness
Und die Führung dahinter geht weiter und Léo wiederholtDie Welt, ja die Welt ist verrücktso weit, so festgestellt und Hadfiza denkt weiterWhat’s my responsibility, my response-ability … why am I so responsiveIch versuche mitzuschreiben und damit ist stehenbleibenelegant nebenher beschlossene Sache und Hadfiza erzählt: There is thissaying in english, that if two people disagree you tell each other to go fly a kite, you say:Go fly a kite!
Und Hadfiza erzählt, wie der Kite fliegt, in geteiltem Himmelüber geteilter See, there, nothing to own there, clearlyund wie der Kite dann hängen bleibt im Baum, in the tree of politicsIch bleibe an diesen Bildern hängen, sky and sea, zeichnen klaresBild, von etwas, dass einem nicht gehören kann, aber beim Baumda wird es komplizierterda geht es um Verästelung und Verwurzelt-Seinund Herkommen und Hinwollen
I am afraid, sagt Hadfiza entsprechend, i am afraid – are you?und dann: But thank you for letting me say what I needed to say, thank you for trying to listen (yes, you try)und:Why divide ourselves in binaries,the world works in dualities, but they’re a paradox – am igoing crazy?
Das frage ich mich dann auch, über michals ich einige Gedanken später weiter gehe den Raum, den einige konzentriert zuhörende, zugewandte Menschen hier zeitweilig geschaffen habenverlasseund denke, ein guter, sad-klarer Start, depressed glowing(yes, we need to switch those metaphors, for good)
In keine klare Richtung laufend (mach das mal), frage ich mich, wie das geht, Wege finden auf offenem Feldwie entscheiden, wohin es mich zieht, was zieht?Da entscheidet schon das NetzTim Kummer kommt und das Bekannte ist eine Richtung, die immer geht, auch oft genug gut, um es immer und wieder zu tunTim ist auch noch temporär lost, verrät mir aber die Fixpunkte, die kommen werden
Und ich frage mich, nebst der Richtung im Laufen, ob ich überhauptdas Feld überblickemit dem Plan in der Hand, den kann ich drehen und wenden, wieich will, vieles passiert nebendranvon der sozialen Eleganz
Drüben, unter den Bäumen, später ziehen sich währenddessendrei softe und ungestelzte Menschen – Yadin Bernauer, Emma Bertuchoz, Giuliana Gjorgjevskiauf etwas anderen Stelzen, vom Boden aneinem Baum hoch, bis sie stehenund umarmen, scheinbar dem Baum dankend, dass er ihnen aufhalfund einanderund ich frage mich, ob es der gleiche Baum ist, wie in Hadfiza‘s Wortenam Baumstamm hochschauen, sehe ich noch keinen Kite, aber vielleicht fliegt der ja noch
Gleich darauf, daneben, auf der Wiese liegt schon seit dem Morgen einangeschnittener Baumstamm, eine Scheibe, in der Mitte ein Loch, einKörper, der sich dazu verhält, antanzt, selberBaum zu werden, ob es auch der Gleiche ist, ob Irena Kulka mit den Händen oder Füssenje nachdem was schlussendlich zuoberst ist, den Kite einfangen wird
Weiterumhergehend frage ich mich, was ich sehe, worauf ich schaue, was michzieht stösst treibt verweilen lässt, wo ich bleibeüber die Wiese schauend, einige Gesichter in unscharfer Ferne lesend, sehe ich wiesich das einige frageneinige die in die Weite schauen und das Geschehenmit ihrem Blick abtasten, wasist das hier schon Performance oder ist es noch Gesprächbin ich im Bild
Vielleicht auch darüber, wer alles hier ist, oder hat das jetzt schon angefangen, das wovon du mir vorher erzählt hast – weil ein solches Setting Zufälliges begünstigt – es gibt Zufälle, aber sie sind seltener als Tipps
(aber klar, das sag jetzt ich)Und elegant sehen die aus, die Naheliegendem wie zufällig begegnenUnd sozial elegant sind vielleicht die, die dem Weitläufigeren, Randläufigeren, wie einem Tipp entgegengehen
Ein Ort, dem vielleicht kaum angemessener begegnet werden kann, derkleine Torbogen in der Mauer zur Strasse, mit der halbrunden Treppe, mitden wenigen Tritten davordarauf sitzen bereits einige Menschen und wenige weiterestehen rundherum, daunter dem Torbogen liegt Cécile Baumgartner Vizkelety, glaubwürdig gemütlichauf der Seite und drückt, oder stösst mit einer Hand an einem angespannten Armeinzelne, bereits halbiert gefaltete metrige Spaghetti in eine Spielzeugpfanneauf einem Gasherd, agressives Spaghetti-Kochen, ich nehme mir sofort vor das Zuhause auch zu tun, vielleicht in grossDurch den Torbogen dahinter ist die Strasse zu sehen und in einem inneren Spiegel direkt das Bild von dort aus gesehen, welches wir ergeben – eine eingeschworene Gemeinschaft, aber auf was
Zweifel! schreien das Badetuch und die kleine Tasche dienebeneinander auf der Wiese liegen – ich wurde vom grünen Rauch frühzeitignach dort drüben gezogen, daneben steht Ivan Röösli und erzählt von ebendiesen Zweifeln und den Freiheiten dazwischen und rundherum – selten waren Zweifel so lustig undebenso selten so mobil, einfach das Badetuch einrollen, in die Tasche und plötzlich ist alles tragbar
Wie ein Teil Öl in Wasser, der sich nicht vermischtaber vielleicht verstückelt und vertropftdann das geschütteltso bewege ich mich von einer Situation in eine anderekann kurz Anbindung wagen und weiterziehen, kannmeine Bewegungen ins Gesamtgefüge einbeziehenkann fragen, wer schaut und hört wem zu undwem wenigerwem nichtwer mir, meinem Gesicht, wenn es sich verzieht, falls es sich verziehtoder vielleicht bin ich schon weitergezogen
Da liegt ein Koffer am Bodenda sieht es nach Ankommen aus, vermeintlichda geht es um Abreise, unendlichevon der Sawi Laila erzähltda geht es weniger um Ferien, als die motiviert hinterherlaufendeReisegruppe den Anschein erwecken könnteda ist ein Koffer mit Papier darin, Blätter mit Geschichten daraufvon Papierenhaben oder nicht haben, oder die anderen, die falschen, odereinfach die anderenda wird ein Koffer aufgeschlagen und Kleidungsstücke und Zettel quellen lose daraus hervorwie wenn jederzeit eine Geschichte verfliegen und eine andere hereinfallen könntespezifisch schon, und auch flüchtig
Dann, wiederum über den Platz, doch noch der ferienversuchteSPA-Moment, unter den prasselnden, auf nebeneinander aufgereihte Gesichter klatschende Gurkenscheiben, mit geübter Hand geschnittenPavana Reid geht ruhig am Kopfende der Reihe auf und ab und regnet kleine Frischemomente auf mittlerweile müde Augen und aufdie trotz der Wolken warmen Wangen
Weiter, drübenein angenehmes Bild, oder vielleicht nervt es die, die an die vorangehende Arbeit denkenwenn die Maschen aufgehensich lösen und das dicke Garn, das Gewebe aufgezogen wirdwenn Ariane Lugeon in einem Gewand auf und ab und umher gehtmit einer Hand am Faden, immer weiter auflösen, den Faden weiter auslegendneben mir sagt Imre Banlaki etwas wie doch, das ergibt Sinndas ist schlüssigalle Fragen, die aufgeworfen werden, fängt es gleich wieder auf – es gibt Kunst, die einfach schlüssig istwährenddessen wird das Gewand stetig weiter aufgelöst und abgebaut undein Ruf kommt dazu, nicht ganz verständlich, einige fragen sich und einander, dann lauter und klarer – PLEASE PEACEund Imre neben mir, wie eingestimmt Police Please Peacewie wir es bei den G20-Protesten vor einigen Jahren mit einem kleinen tragbaren Beamer an die Fassaden der Häuser, an denen die Demonstrationszüge vorbeigingen, projiziert haben – oder doch defundeher
Wieder unter den Bäumen, dazwischen, eine Schnur aufgespanntdahinter auf dem waldigen Erdboden kniend, ziehtAzad Colemêrg laminierte Papierstreifenmit einer Saugglocke aus Löchern im Boden, danndie Streifen mit Klammern an den Faden – Völkermord in Ruanda u.a.neben den grösseren Schriftzug jamais vuUngesehenes ausgegraben, Ungern-Gesehenes als Aufhänger
Ich treibe wieder ab, von dieser Stelle, weiterzeitweise aufkommende Unruhe bricht sich, mit Menschen die auch in dokumentarischem Modus unterwegs sind, die zeichnend, skizzierend, notierend, oderkleine Skulpturen formend, die Erinnerung so aktiv herstellen, wie es wohl immer geschiehtnur sichtbarer hier
Staunend schaue ich noch eine Weile, oder zwei Pascale Grau beim überzeugenden Posen und Fontäne-Sein zu, dann ziehe ich weiter
Auf der Wiese weiter hinten sammelt sich was an, Sitzendein einer Runde und hören magnified Murat Temel zu, bei einer Erzählung, von Haaren und Sprachen und Schafen – geschenkten und geliebten – von Geschichten des Fressens und Einverleibens, von Döner und schönen Fingernägelnund das Schreien der Klageweiber bleibt ein Hintergrund, einer der vielleicht fragt, muss ich dahin gehen, wo es am lautesten schreit?
Späterverloren, in einem Gespräch über die Planbarkeit von Süchten und anderen zwischen-menschlichen Abhängigkeiten, sitze ich für eine neblig geworden langeZeit auf dem Rasenund schaue nur zwischen den Beinen der Leute hindurch, die Raum gebenfür einige weitere Stücke, Pieces, sehe etwas, aber sehe auch ein:rücke ich ein bisschen ab im Raum und bleibe ein wenig weg, hinter Rücken, hinter Menschenwänden, die Raum bilden, sich einen Raum schaueneinbilden, sich für einen Moment einschwörenauf das Herausfinden worauf, sich bewegenin unvorgefertigten Raumvorstellungen, sich losezusammenschliessen, sich in Ohren und Augenund der leichten Spannung auf der Haut im konzentrierten Gesicht, im peripheren Blick, im Wahrnehmen voneinander verbinden – keine Handreichung nurein weiches Reichen der Hände in Gedankenein kontinuierliches Positionieren in wortloser Absprachein Relation, in Beziehung zueinander
Und auch von weiter weg ist der Fadenungeschnittene, unabgebrochene Verbindungliegt für die Weile leichter in der Luftnur scheinbar weniger gespannt
Sehe noch, von da ausMenschen sich bewegen – Odilia Senn und Franca Fay Zanetti, Aceko Ekemo, von der Gruppe Raumflucht, und das Peace Piece vom Kollektiv Kollabor, wo nacheiner heruntergelesenen Liste unendlich vieler Kriegeund ihrer Todesopfer, weisse Tücher, wie Fahnen an Ästen aufgehängtund in Löcher im Boden gestellt werden undich frage mich, ob aus den gleichen Löchern später mit einer Saugglockeweitere unbeachtete schreckliche Ereignisseauf schmalen Zetteln aufgeschriebenherausgeholt werden könnten
Ich bleibe in den Nebel zurückgestossen wach rüttelt mich, als Laura Lutterbach und Eva Talesia Maspoli, nachdemsie sich über den Rasen gezogen haben alswürde es steil bergauf gehen, in den Brunnen gleiten lassen und eine Personruft: Nein, stopp, das Wasser ist giftigSpäter erfahre ich, dass dieses Wasser die sich dauernd bewegende Brunnenkonstruktion schonen solldamit sie erhalten bleibt, damit gar kein Erinnern nötig würde
Ich erinnere mich an den Nachmittag, frühen Abend, oder frühere Male woich hier gewesen bin, wo der Wind gedreht hat und mich an den verschiedensten Stellen auf der Wiesedie Tropfen des Brunnenwassers erreicht habenund die seifigen Blasen auf dem Wasser im Brunnen undfrage mich, ob das, ob dasob das allesob das alles soob das soverhältnismässig ist
Dass Erhalten und Erinnern, gleichgesetzte Gegensätzesich gar nicht so gut verstehenZerfall ist das Erinnern der Materialien
Auch sie wollen sich verarbeitenwollen sich nicht überleben, wollen nicht für immer, ewigordentlich eingerahmt, vermeintlich verrücktspielen, wollen den Brunnenrand überschreitenden Rasen mit dem giftigen Wasser getränkt braun werden lassen, absterben lassenund die Bäume schauen herüber, sehen die bräunlichen Ränder der Ewigkeitoder der Verewigungverewigt, an der Ewigkeit vorbeikeine Zeit und keinen Ort mehr haben dürfennicht spezifisch sein
Und die Bäume stehen ruhig, haben mitgezählt und werden auch weitermitzählen: etwas Spezifisches, umringt von Jahreneingeschlossen in erinnernde Schichten, die alle etwas Spezifisches sind und sehen und wissen, hinzufügen, beitragen, einwachsen und aufund vielleicht nur der Kite in den Ästen verhängt, bleibt einzeln, bleibtnicht einverleibt