Seine «Situationen» entziehen sich der bildlichen Dokumentation und hinterlassen keine materielle Spur. Unaufschiebbar ist darum das Erleben von Tino Sehgals Kunst und subjektiv die daraus resultierende Erzählung. Und: Was jeden Moment neu Gestalt annehmen kann, lässt uns nie allein.
Aus gezielter Neugierde folgte ich Anfang Juni dem gebogenen Kiesweg hinter dem Café der Fondation Beyeler. Ich wusste, dass ich mit Gesang zu rechnen hätte, aber ich wusste nicht, wie. Dann trafen mich am Wegrand zuerst der wache Blick einer Frau und dann die ersten Takte des Volkslieds, das sie mir wie zum Gruss entgegensang: «Luegid vo Bärg und Tal». Die Interpretin hatte kurzgeschnittenes, graues Haar und ein schwarzes, knöchellanges Sommerkleid. Sie sah wie eine Besucherin aus. Nur aufmerksamer – schon weil sie nichts bei sich trug und auf mich zu warten schien, um ein paar vertonte Worte zu verschenken.
Ich hätte stehen bleiben können. Ich hätte einstimmen oder fortfahren können: «flieht scho de Sunnestrahl, luegid uf Aue und Matte…» Dann hätten sie und ich entscheiden müssen, wie unsere Begegnung gemeint sei. Ob ihre blosse Stimme die Grenze zwischen Performerin und mir aufrechterhielte oder ob wir einen Augenblick – vielleicht der Anerkennung, vielleicht der Nostalgie – teilen würden. Ich ging weiter. Kontrollierte das Tempo meiner Schritte. Ertappte mich in Befangenheit. Wusste nicht, ob das musikalische Landschaftsbild spontan für mich ausgewählt war oder ob ich es einer vorbestimmten Reihenfolge verdankte. Bereits hinter mir hörte ich, gesprochen jetzt: «Tino Sehgal, zweitausendundsechs». Dass die freundliche Konfrontation in Künstlername und Datierung ihren Abschluss fand, entliess mich zurück in die Räume, in denen ich die Membran zwischen mir und Werk wieder intakt wusste.
Momente äusserster Verbindlichkeit
Es ereignet sich viel, wenn ein Mensch die Kunst vertritt, die der Betrachtung sonst unverändert standhält. Auch oder gerade, wenn Interaktionen in so geschmeidiger Präzision organisiert sind wie bei Tino Sehgal. In der Ausstellung ‹Action!› im Kunsthaus Zürich traf ich – diesmal nicht allein – auf Andrea. Sie lud zu einem Gespräch über Marktwirtschaft ein. Andrea sah nicht aus wie eine Expertin der Ökonomie und liess auf Nachfrage ganz offen, aus welcher Perspektive wir den Austausch anregen wollten. Was sich daraus ergab, kann ich mich wohl darum so präzis erinnern, weil der Ort der Ausstellung unserem Reden Verbindlichkeit, ja den Status eines Werks unterlegte: Wir realisierten, als einzige in diesem Moment, die Arbeit ‹This is Exchange›, 2003, die dann wieder ins immaterielle Stadium einer Idee, eines Konzepts, einer Anweisung zurückfällt.
In wenigen Minuten stand die Diskrepanz zwischen Wert und Honoraren im Kulturjournalismus im Raum. Eine Teilnehmerin beantwortete das Prekariat der Printmedien lösungsorientiert. Wir sahen wohl alle die Unvereinbarkeit von Standpunkten und trennten uns, nicht ohne Empfehlungen zum gezielten Networking mitzunehmen – und Andreas Codewort, das uns fürs Mitmachen an der Kasse des Kunsthauses zwei Franken des Eintrittsgelds erstattete.
Ist das Museum berechenbar?
Es gibt kein Alleinsein in der Kunst von Sehgal. Leise, aber beharrlich führt er Regie mit der Nähe, ja Intimität der musealen Rezeption. Indem er den Austausch manchmal gering dosiert, manchmal zur Bedingung der Teilhabe macht, zielt er auf individuelles Erleben und lehnt sich so gegen jede gleichgültige Distanznahme auf. Wobei man in den Versuchsanordnungen, in die man diesen Sommer in der Fondation Beyeler auch unerwartet hineingerät, gleichsam seine Beobachtung bei sich spürt. Um uns geht’s – das ist das Versprechen –, aber wir erkennen uns auch als der mentale und physische Stoff, aus dem der Künstler entlang berechenbarer Verhaltensmuster seine Handlungen formt.
Mein Weitergehen im Garten ist von einer ebenso hohen Wahrscheinlichkeit in Sehgals Partitur wie mein Verstummen da, wo eine Tänzerin gegenüber von Francis Bacons ‹Lying Figure›, 1969, in Slow Motion ihren Körper dem Boden englang scannte. Als würde ihr eigener Schwerpunkt unaufhaltsam von einem rotierenden Gewicht verschoben, zog ihr Torso Arme oder Beine nach sich, faltete und dehnte sich der ganze Körper. Im vorausgehenden Raum mit Werken aus der Sammlung hatte die Kombination von Jenny Holzer, Marlene Dumas und Louise Bourgeois noch ein Gespräch provoziert: Das Schicksal der Leiber könnte weiblicher nicht sein im Gipfeltreffen der jüngsten Kunstgeschichte. Toter Schwan, Fadenspulen und in Marmor gemeisselte Botschaften ballen sich, schwarz gerandet, zur femininen Nachdenklichkeit. Solche Kombination ist anfechtbar. Die leibhaftige Präsenz des Humanen bei Sehgal jedoch ruft Respekt, Staunen, Verunsicherung hervor: Man ist gebannt.
Unangefochtene Autorschaft
«Ich rede nicht so gerne über meine Arbeiten, weil Kunst ja ein Angebot für die Rezeption ist, eine eigene Interpretation zu machen und darüber vielleicht auch etwas über sich selbst oder anderes zu erfahren», meinte Sehgal im Verlauf des Artist Talk in der Fondation im Mai. Doch der Kunstbetrieb will die Sprache des Autors, der den internationalen Markt längst erobert hat. Und Sehgal redet schlüssig, fast unangreifbar wirkt er in seinem durchdachten Œuvre. Er gibt Auskunft über seinen Antrieb, der auf Mehrung von Gütern konzentrierten Industriegesellschaft alternative Techniken anzubieten und Beziehungen weniger mit Dingen als handelnd zu gestalten. Über die zivilisationsgeschichtlich junge Institution des Museums, dieser «Ritualstätte der zeitgenössischen Kultur», welche Kunstgeschichte als eine Geschichte des immer Neuen fortschreibt. Über seine punktuellen Exkurse auf die Theater- und Opernbühnen und darüber, dass ihn der individuelle Besucher im Museum mehr interessiere als die Versammlung städtischer Gesellschaften. Und nicht zuletzt über die Kostbarkeit des Ephemeren: «Mich interessiert, wie wir Handlungen wertschätzen, ob wir sie wieder so wertschätzen können, wie wir Objekte wertschätzen. In anderen Kulturen war es ja umgekehrt: Da waren Handlungen wichtig und das Objekt weniger wichtig.»
Wenn er – selbst zum Tänzer ausgebildet – Bewegung, Klang oder Sprache der musealen Betrachtung zuführt, suche er «Momente, die beides sind: individualisiert und kollektiv». Dass es keinen Text gäbe, kein Objekt, keine Werkabbildungen, will der Künstler nicht unbeantwortet stehen lassen: «Kein Dies, kein Das, kein Jenes – das ist nicht meine Perspektive. Ich versuche schlicht, etwas zu machen und nicht nichts, bloss eben etwas anders.»
Isabel Zürcher arbeitet als Kunstwissenschaftlerin und Autorin in Basel und Mulhouse. mail@isabel-zuercher.ch
Erstpublikation des Textes im Kunstbulletin 9/2017
Fokus // Tino Sehgal