Dorothea Rust:
Human in the Loop
Dorothea Rust schreibt nach der Performance «Human in the Loop» der Cie Nicole Seiler am Dienstag und Mittwoch 23./24.4.2024 anlässlich von «ADN – Danse Neuchâtel» im Centre de culture ABC in La Chaux-de-Fonds.
Cie Nicole Seiler
HUMAN IN THE LOOP
Danse et intelligence artificielle : la créativité augmentée ?
23. + 24. April 2024
d ADN – Danse Neuchâtel
ABC-Temple Allemand, Rue du Progrès, La Chaux-de-Fonds
Der Performance-Raum und die Zuschauer:innen
Der Aufführungsort befindet sich im ‘Temple Allemand’, vormals ein Kirchengebäude. Unkundig in La Chaux-de-Fonds, bewege ich mich wie durch ein Labyrinth, bis ich vor dem ‘Temple Allemand’ stehe. Drinnen fällt mir der grobe Bretterboden auf und der warm eingerichtete Eingangsbereich mit Kronleuchter und opulenten Vorhängen, später im Aufführungsraum die unmaskierten Wände, die die Patina von früheren Farbschichten und Bohrlöcher zeigen, alles Spuren von vergangenen Einrichtungen und Benutzungen für sakrale und andere Handlungen. Es hat Säulen und über uns eine Galerie mit einer Holzbalustrade, die den ganzen oberen Teil des Kirchenraumes umrankt. Ein Raum mit viel Ausstrahlung und zeitgemäss gut ‘équipée’ für Aufführungen.
Gemischtes Publikum: Ältere und solche mittleren Alters, aber auch Schüler:innen und Studierende, die auf Französisch angeregt ‘konversieren und parlieren’, plappern und plaudern, einige scheinen sich zu kennen. Wir alle warten auf Einlass. Die Veranstaltung im ehemaligen Kirchenraum ist ausverkauft. Von allen Stuhl-Reihen aus, die auf einem Gradin angebracht sind, gibt es eine gute Sicht auf ein mit weissem Tanzteppich ausgelegtes quadratisches Feld. Es ist die Arena der Performer:innen.
Hintergrund der Performance mit KI
Auf der rechten Seite des ausgelegten Feldes befindet sich gut sichtbar die Regie, die die von der KI errechneten Anweisungen den beiden Tanz-Performer:innen zuspielt. Nun ist die ‘künstliche Intelligenz’ oder KI eine Maschine; Nicole Seiler hat sie mit einer Zusammenstellung von 10 Jahren choreografischer Daten aus vergangenen Tanz-Performance Stücken gefüttert. Diese Daten sind ‘audio-script’-Anweisungen. Eigentlich ist die KI mit eingespeisten Daten von Nicole Seiler ‘angelernt’ worden und stellt eher ein ‘machine-learning’-Ding dar als eine künstliche Intelligenz, wie sie ‘populaire’ genannt wird. Wie in diesem Choreografie-Spiel mit der Maschine die KI angewendet wird, erfahre ich nach der Performance in einem Gespräch der Choreografin und Tänzer:innen mit dem Publikum: Nicole Seiler gibt die ersten zwei Sätze einer Anweisung ein, und die Maschine ‘schreibt’ dann die Fortsetzung. So wird die ‘Maschine’ vor jeder Aufführung neu kalibriert, d.h. sie wird angewiesen, einen neuen Cocktail für die beiden Performer:innen zu ‘mixen’, die diese dann, wie in der Ankündigung der Performance zu lesen ist, ‘neu zu entdecken’ hätten.
Dass die Performance die Beziehung zwischen Menschen und ‘künstlicher Intelligenz’, also Maschine und ihren Algorithmen prozesshaft sichtbar machen will, schwebt über dem Abend und tritt für mich schemenhaft in den Hintergrund. Ganz vorne sichtbar ist für mich die Performance der beiden ‘danseur-euses’, wie Nicole sie bezeichnet, Clara Delorme und Gabriel Obergfell. Sie können als je eine weibliche und eine männliche Performer:in gelesen werden; ihre eigene ‘Gender-Zuordnung’ ist (mir) nicht bekannt. Im Vordergrund sind ebenfalls die Anordnung im Raum, die konzentrierte fokussierte Stimmung der Regie an der Seite des Performance-Feldes und das sparsame Lichtspiel und der Sound, der eingeflochten wird: In corpore geben sie das ganze ‘Bild’ des Performance-Abends wieder.
Die Performance «Human in the Loop»
Es wird dunkel im Raum, eine ‘weisse’ Stimme tönt aus dem Off: «nous vous souhaitons un bon spectacle … … il est interdit de manger … … de fumer dans la salle … … pas de photos … … d’éteindre les téléphones portables … …». Und so etwas wie Regieanweisungen, die normalerweise im Verborgenen stattfinden, hier aber ‘en public’ zu hören sind: «… … lumière public s’éteint … … ». Es folgen kurze Ansprachen von Philipp Olza und Ivan Cuche zum ‘programme de la semaine’, dem Wochenprogramm. Alles sehr ‘sympa’, sehr einnehmend.
Die beiden Tanz-Performer:innen, mit Kopfhörerstecker in den Ohren, stehen am Rand des ausgelegten Feldes, neben der Regie, die die KI-Choreografie und den (KI-?)Sound und das (KI-?)Licht reguliert. ‘En silence’ beginnen sie mit langsamen Bewegungen, mit sorgfältig ziselierten Gebärden mit Armen und Fingern. Das gestische Bewegen, gepaart mit abrupten Richtungswechseln, unter ganzkörperlichem Einsatz, dann und wann auch ganz auf dem Boden, zieht sich in immer wieder unerwarteter Rhythmisierung durch die ganze Performance.
Weil wir, das Publikum, wissen, dass die Performer:innen Anweisungen bekommen, die die Maschine generiert hat, diese aber vorerst nur die Performer:innen in ihren Ohrenknöpfen hören, wirken die prompts für mich wie ein geheimer, übergeordneter O-Ton, der hier alles anschiebt und in Bewegung setzt. Die Anweisungen werden von den Performer:innen jeweils ‘instantanément’, sofort in Bewegung umgesetzt: Die kleinen Bewegungsexplosionen muten alltäglich und doch vertrackt und kompliziert an. Sie werden von den beiden Performer:innen synchron ausgeführt, es sind artikulierende Bewegungsgesten, die divergieren als auch fusionieren und als solche zu uns sprechen. Sie wirken auf mich Zuschauende wie ein reichhaltiges Musterbuch für Tanzbewegungen.
Die Performance ist in mehrere Akte aufgeteilt, die sich zu einem originären Ganzen verweben. Jeder dieser Akte ist jeweils ein ‘Neu-Anfang’, mit einem anderen Set von Anweisungen, die ihren programmierten Lauf nehmen. Die Reihenfolge dieser Akt-Teile hat Nicole Seiler dramaturgisch bestimmt, sie also nicht von der Maschine oder der KI programmieren lassen.
Für die beiden Performer:innen, die sich jeweils für den ‘Neu-Anfang’ immer an den Rand des Feldes, neben der Regie, in Bereitschaft positionieren, ist das eine physisch-mentale Herausforderung. Sie wissen, wie sie die Anweisungen bekommen, nicht aber im Voraus, wie die Anweisungen lauten, die sie in der Performance umzusetzen haben. Somit betreten sie in jedem Akt Neuland.
Als die Performer:innen in Akt 2 wieder neu beginnen, treten sie genau gleich wie bei Akt 1 ins Performance-Feld hinein; dabei werden kratzige bis sirrende Geräusche eingespielt. Es sieht so aus, wie wenn sie die gleichen Anweisungen wie in Akt 1 hören und umsetzen würden.
In Akt 3 hören wir, die Zuschauenden, aus dem Off die Anweisungen für die Performer:innen. Wir können jetzt mitverfolgen, wie sie diese möglichst 1:1 in Bewegung umsetzen. Eine Besonderheit zeigt sich dabei: nämlich dass die beiden Performer:innen bei gleichen Anweisungen in ihrer fast reflexartigen Interpretation leicht voneinander abweichen und gerade da ihre je individuellen Persönlichkeiten erkennbar sind. Ich bin ergriffen von den einzigartigen Verwirklichungen ihrer Bewegungen.
Wirkt das Ganze so spontan, weil die Performenden ‘chaque soir’ andere Anweisungen bekommen, alors ‘un nouveau spectacle’, ‘une nouvelle expérience’? Einmal informiert uns die Stimme aus dem Off, dass die Bewegungen jeden Abend neu programmiert werden. Müssen wir das wissen?
Die Bewegungssprache, die sich da in unserer Anwesenheit aufrollt, will nicht eine Botschaft oder eine Geschichte transportieren. Will die Bewegung nichts anderes sein als Bewegung? Was transportiert sie zu uns? Wie wenn ich meinen Blick in ein Kochbuch, auf ein Rezept fixiert hätte und ein kompliziertes Gericht kochen würde, und Schritt für Schritt die Anweisungen lese und diese gleichzeitig ausführen würde. Genauso saugt sich mein Blick an die Körpergesten der Performenden. Was wir hören, wird vor unseren Augen reflexartig und instinktiv so schnell in Körpergesten umgesetzt, dass mich ihr Bewegungsfluss ergreift, und ich mich innerlich mitbewege.
Mir kommt Yvonne Rainer’s «The Mind is a muscle» in den Sinn, ein revolutionäres, postmodernes Tanzstück aus den 1960er Jahren. Rainers Bewegungen versprühten die Aura von cooler Alltäglichkeit und Urbanität, von ‘ich tanze nicht, ich bewege mich wie auf der Strasse und das genügt als Performance’. Sie wollte den Blick auf die Bewegung und nicht auf Emotionalität und ihren narrativen Inhalt gelenkt haben. Heute würde Yvonne Rainer ihren Tanz eventuell auch mit KI programmieren-choreografieren. Auch in «Human in the Loop» ist dem so, die Bewegungen der Tanzenden springen sozusagen aus dem Alltag auf die Tanzfläche.
In einem weiteren Akt sprechen die Performenden: Bei « … … attends et dessine du bout du doigt … …» legen sie gleichzeitig ihre Hände auf das Gesicht ihres Gegenüber. Hören sie als Anweisung genau das, was sie aussprechen? Ihre unbedingte Bereitschaft und Aufmerksamkeit sind ansteckend. Mitunter wirken sie wie ferngesteuert; denn das Gehörte so direkt in möglichst präzise Bewegung umzusetzen, ist eine grosse Herausforderung. Eine agile körperliche Verfasstheit und Bewegungsintelligenz ist Voraussetzung.
Was, wenn die von der ‘Maschine’ generierten Anweisungen unausführbar sind? Weil die Maschine keine eigene Körper-Intelligenz hat? Wie gehen die Tänzer:innen damit um, welche Lösungen finden sie? Verleiten diese ‘unmöglichen’ Aufgaben sie ‘on the spot’ zu eigenartigen Körperhaltungen und verwickelten Bewegungskombinationen, die ohne den Umweg über ‘die Maschine’, also wenn sie direkt von der Choreografin angeleitet wären und nicht via KI, sich nicht in solcher Art manifestieren würden? Ist das das interessante choreografische Spiel, das Nicole Seiler mit der Maschine praktiziert, den Pakt, den sie mit der Maschine geschlossen hat? Tänzer:innen-Körper-Intelligenz versus künstliche Intelligenz?
In einem späteren Akt wird das Performancefeld von rotem, sehr rotem Licht geflutet und wir hören die Anweisungen, die die Tänzer:innen gegenseitige aussprechen: « … … vers toi … …», «… … ils s’arrète dans un rayon de lumière … …», und «… … pose la tête sur le sol … … le mouvement est précis … … geste jardin végétal … …». Jetzt folgen sehr schnelle Bewegungswechsel, die sie in prekären Körper-Haltungen zu Fall bringen. Kühles blaues Licht flutet den Raum; wir bekommen vom O-Ton in Worten zu hören, wie das geschieht: «… … changement en bleu artificiel chimique … … en dehors du système … …».
In einem der letzten Akte – ich habe die Übersicht über die Anzahl der Akte verloren –, begeben sich die beiden Tänzer:innen ins Publikum: Sie nehmen Einzelne ins Visier, um mit Zuschauenden direkt in Kontakt zu kommen; diese reagieren scheu oder affektiert.
Wieder auf dem Performance-Feld verdichtet sich das Geschehen: Die Performer:innen werfen sich in einen überraschenden und annähernd ekstatischen Tanz zusammen. Der Sound, der perkussiver wird – die ‚batteries battent‘ –, trägt das Seine dazu bei. Folgen die beiden danseurs-euses immer noch den Anweisungen, während sie sich verausgaben und mich und die Zuschauer:innen elektrifizieren? Was mich an die Bewegungen der Börsenhändler:innen vor der Digitalisierung des Börsenhandels erinnert. Ebenso sind die Bewegungen der Tanz-Performer:innen Clara Delorme und Gabriel Obergfell in gewisser Hinsicht zweckungebunden, weil sie ihren Ursprung in den von einem (übergeordneten) System initiierten und zusammengewürfelten choreografischen Anweisungen haben.
Es sind die kleinen, untergründigen, bisweilen auch offensichtlichen Divergenzen und Ungereimtheiten in diesem überraschenden und paradoxen Mensch- und Maschine-Choreografie-Spiel von Nicole Seiler, in Zusammenarbeit mit den Tanz-Performer:innen: Ein 'gender gap' ist hier höchstens in den äußerlichen, physischen Unterschieden zwischen den beiden Performenden auszumachen, durch ihre Präsenz und ihr Handeln wird er ‘leichtfüssig’ unterlaufen. Dann in der Spanne zwischen eingespeistem choreografischem Material und dessen Umsetzungen in Bewegung durch die beiden Tänzer:innen, und wie sie sich vor unseren Augen entfalten. Und da ist noch ein ‘gap’: Sonderbar erfüllt und bewegt verlasse ich den ‘Temple Allemand’ und denke auf dem Weg zum Bahnhof über dieses Paradox nach: dass KI viel Energie braucht und mit einer Unmenge an Daten gefüttert werden muss, die Menschen in Asien, die in sklavenähnlichen Verhältnissen arbeiten, für die KI säubern müssen. Und dass unter der Anwendung von KI ein beeindruckender Tanzabend entstanden ist, in dem Absurdes und Poetisches in vielen Momenten wunderbar aufscheint, und Raum und Menschen an diesem Abend affiziert, ja uns, die Zuschauenden, womöglich ‘in einen gemeinsamen flow’ gebracht hat.
Dorothea Rust, im Juni 2024