Dorothea Rust:Ein Manifest fürs Schreiben durch Performance hindurch
Dorothea Rust schreibt im Rahmen der Konferenz «Conserving Performance/Collecting Performance», Day 5: «Collecting and Preserving as an Act of Care», am Samstag, 28.9.2024 in der Dampfzentrale Bern.
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Zuerst einige Gedanken zu, was Performance-Praktik für mich sein könnte, und warum mich das Schreiben durch Performance hindurch und das Netzwerken interessieren und beschäftigen. Aus meiner Sicht verstehe ich Performance als eine merkwürdige, eine sonderbare, eine quere, queere Praxis
*^* Was bedeutet, dass Performance das Bewusstsein für das, was uns umgibt, schärft, was bedeutet, dass Performance nicht ohne Kontext und beziehungsbezogene Aspekte in bestimmten Situationen existiert
*^* Was bedeutet, Performance ist selbstreflektierend in dem Sinne, dass sie nicht nur kühn Ideen von Qualität und Kanon in Frage stellt, sondern auch in Netze eingebettet ist, die keine Privilegien produzieren wollen, von den Rändern her denkt, einschliessen will, was tendenziell ausgelassen wird, und ihren Marktwert und ihren symbolischen Wert in Frage stellt, ja ausnebelt, es könnte auch gesagt werden, ja unterminiert
*^* Performance wird für mich mehr und mehr zu einer kulturellen Praxis als zu einer künstlerischen Praxis, wenn Performance im öffentlichen Raum stattfindet, wird sie zu einer öffentlichen Kultur
*^* Wo ist ihr Erbe, das Erbe, das Performance bewerten, anerkennen, vergleichen, beurteilen, auswählen, überwachen und verstehen will?
* Wenn das Kernpotenzial der Performance darin besteht, unbewusste Ebenen in Raum und Zeit auszulösen?
* Wenn Wahrnehmung kulturell bedingt und kontextabhängig ist und im Dialog mit dem eigenen kulturellen Unbewussten steht, das durch eine performative Situation aktiviert werden kann, in der Publikum, Zeug:innen, Passant:innen usw. und die Materialität eines spezifischen Raums, in dem die Peformance stattfindet, ebenso eine Rolle spielen wie der:die Performer:in-Autor:in?
* Wenn der inhaltliche Plan eines performativen Vorhabens vom Kontext abhängt, könnte ich argumentieren, dass der Kontext dem Werk inhärent ist, ich könnte auch argumentieren, dass die Performance konzeptionell an einen Live-Kontext gebunden ist
* Wenn Performances nie verschwinden, nicht flüchtig sind, im Kern des Lebens nicht vergehen, da es Erinnerungen gibt, da es physische Erfahrungen von Zeug:innen im Publikum, von Passant:innen, von schnüffelnden Hunden und anderen Lebewesen gibt, usw.
*^* Sie können darüber tratschen, nachzählen und wieder erzählen, also mündliche Geschichten, und wenn wir das Gedächtnis dem Material und dem Raum und allem Lebendigen, das vorhanden ist, zuordnen, nun, dann hat sogar der Hund etwas zu sagen, auch wenn wir seine Sprache nicht verstehen
*^* All das und mehr ist es, warum ich gerne durch die Performance hindurchschreiben und Performance nach-erzählen will
*^* Hélène Cixous schreibt etwas Ähnliches wie: Es ist schwieriger zu erzählen, als zu erfinden. Doch das Schwierigste ist die Treue zu dem, was man spürt, da unten, im Äussersten des Lebens, am Ende der Nerven, um das Herz herum
*^* Ich könnte auch sagen: Aber das Schwierigste ist, dem treu zu bleiben, was unserein fühlt, wenn unserein sich gerade erinnert und durch eine Performance hindurchschreibt
*^* Ich möchte nicht sagen, dass ich über eine Performance schreibe, denn das könnte den Eindruck erwecken, dass ich sozusagen über einer Performance stehe und einen Überblick über das Geschehen habe, während ich im Performance-Raum von der Performance verschlungen werde und später, wenn ich mich erinnere, die Fragmente dessen lese, was ich während der Performance aufgeschrieben habe, dann schreibt auch der Raum mit, in dem ich mich beim Schreiben danach befinde, und auch das, was dort passiert, wie ich mich fühle, usw.
*^* Da das Erinnern performativ ist, könnte das (Nach-)Erzählen einer Performance als eine Art re-enactment durch den:die Erzähler:in verstanden werden
*^* Das Geschichtenerzählen ist eine sehr alte Methode, das, was geschehen ist, mündlich wiederzugeben, und jedes Mal in einen neuen Kontext zu stellen. Es ist eine Stimme oder die Intonation des Gehörten und Geschriebenen, die erneut performt, es ist eine Stimme, die was gesagt, erzählt und wiedererzählt wird, verräumlicht
* Neue und andere Erzählweisen erfinden. Wie Gedanken unvermittelt rüberbringen, wie sie im Akt des Schreibens erfassen?
* Wie kann die Energie einer Performance durch das Schreiben in Gang gesetzt werden, anstatt die Performance nur zu beschreiben?
Dorothea Rust, im September 2024