Dorothea Rust:Ausgerenkte Kräfte neu zusammengesetzt
Dorothea Rust schreibt nach der Konzert-Performance «Ausgerenkte Kräfte – Forces Disloquées» vom GingerEnsemble mit Peter Streiff als Gast am Sonntag 30.10.2022 im Kunstraum Walcheturm in Zürich.
Wo bin ich gewesen, an diesem 30. Oktober? Was hat stattgefunden? Wer hat gesprochen? Die Klänge, die Kompositionen, die Technik, das Instrumentarium, der Raum, die Performenden und die Anwesenden mit ihren Körpern? Alle zusammen? In der Erinnerung vergegenwärtigt sich der Kunstraum Walcheturm als silber-getünchtes Aquarium; im Scheinwerferlicht werden der graue Boden und die gläsern leuchtenden, metallisch glänzenden und dunkel funkelnden Sound-Utensilien reflektiert.Während der Konzert-Performance schreibe ich auf das Programmblatt. Wörter und Satzfragmente ‘liegen’ schief auf dem Papier. Ihr Gekritzel muss ich zurückentziffern, das Gesehene und Gehörte erst im Abstand zu diesem Abend versuchen mit Worten zu erhaschen und anzufassen, um im Nachklang etwas Neues zu erfahren, das ich so damals, ins Konzert eingetaucht nicht hätte erfassen können. Um mit Olga Tokarczuk zu sprechen: «Die Erfahrung, nicht das Ereignis, ist es, was unser Leben ausmacht.»*1 Die Erfahrung performt nun im Nachhinein erneu(er)t. Mittendrin sitze ich, in der Konzert-Performance, auf einem Stuhl der Stühle, die wie Häppchen angeordnet, ja genau gesetzt sind, ebenso wie die Stationen der Performenden, mit Noten-Pulten, von wo jede Komposition gesteuert wird. Denn die Performenden haben je ihre eigenen Kompositionen oder eine Umsetzung mitgebracht. Exzentrisch ist dieses Konzert-Erfahrung. Körperliche Schwerkraft und Befindlichkeit ziehen mich jetzt während dem Schreiben zentrifugal in mehreren Schweifen in zwei klare Ströme, die in entgegensetzten Richtungen wirken, und wie im gekrümmten (Welt-)Raum wieder wo zusammen kommen, leicht verschoben sich zu einem poetischen Klangereignis-Bogen vereinen.
# In einem Strom setzt sich der Konzert-Raum in weitere Zusammenhänge: Das geschieht einmal mit der dichten Einführung von Valerian Maly, seinen Erläuterungen zum Walcheturm, der früher wo anders gelegen sei (beim Haupt-Bahnhof Zürich). Aus seinen Worten sprüht die Aufregung für den Titel der Konzert-Reihe des GingerEnsembles: «Ausgerenkte Kräfte – Forces Disloquées». Er ist Impuls für diese Ansammlung von Neukompositionen, gemixt mit der Neuinterpretation von bestehenden Werken und führt direkt zum Gemälde «Ausgerenkte Kräfte (Merz-Bild)» von Kurt Schwitters aus dem Jahre 1920. Oder ist es andersherum? Das Gemälde ästhetisch und dreidimensional, mit Müll-Materialien erstellt, in konstanter Bewegung, aussermenschlich, es scheint zu knarren. Das Werk unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg, nach dem dimensionsfressenden Krieg entstanden ist, steht es dafür aus Scherben und Versatzstücken etwas Neues zu bauen? Nun wie führt uns der Titel dieses Gemäldes zum GingerEnsemble und wie holt das GingerEnsemble uns alle Anwesende in diesen Raum hier? In selbigen Strom schwingen jene Werke dieses Abends, die mit konkreten Wörtern, mit realen Alltagsgeräten und Alltagssprache, ja sozusagen Alltagsfakten ‘hantieren’:
@ Da ist «KUNST», 2022 von Valerian Maly: seine einhundertzwanzig Permutationen erzeugen eine eigenartige enzyklopädische Nostalgie für das Wort Kunst. Finger netzen Glasränder: Wir können sehen, wie der Glasharfen-Klang gemacht wird, und wie momentan sphärische Klangbögen abheben, durch den Raum schweben und sich über die Kakaphonie von Wort-Permutationen wie USNKT SUNKT UKTNS UNSTK NTSUK usw. legen. Wegen diesem trockenen Adakadabra und doch konspirativ anmutenden Geschwätz, habe ich es wohl verpasst, die Permutationen mitzuzählen. Der Glasharfen-Klang zusammen mit den Corales und der Viola D’Amore – fraglos fragil und doch hart – mündet in einen feinen Puls, eine wiederkehrende Melodie, die zwischen den Kompositionen spielt. Immer etwas verzögerter sirrt sie an meine Trommelfelle, und verbindet als Intermezzo, was an diesem Abend nicht zusammengehört und doch in der Erfahrung kurzgeschlossen wird.
@ Und dann ist da «Listening for Nellie» 2022, von Cyril Lim: Meine Ohren werden zum Spinnen-Netz, sie wollen aus dem analogen Rauschen aus den Radios und Weltempfänger etwas (auf-)fangen. Die Performer:innen betasten Geräte-Gehäuse, drücken auf ihnen herum und bespicken sie mit ihren Fingern. Performer:innen sind eine seltsame Spezies, denkt es bei mir. Finger und Hände sind ihre Antennen und Sensoren, sie fangen Stimmen wie diese ein: «Nordring nach Seebach lokaler Verkehrsstau». Mein Hirn gerät unter Strom, meine Ohren kommen nicht nach, bei den vielen Stimm- und Geräusch-Quellen auch auf ‘Schwiizerdütsch’. Nicht immer wollen die Geräte etwas von sich geben. Die Performenden stehen im Halbkreis mir/uns zugewandt, während die ‘Zuschauenden’ auf der Rampe ihre Rücken sehen. Andächtig stehen sie da, denn jetzt singt, ja trällert tatsächlich Nellie das Lied «Home Sweet Home». Singt sie ab Tonband? Oder ist es eine Direktübertragung der historischen Live-Aufnahme von Nelli Melba, der ersten britischen Radioübertragung einer Musikerin – wie ich im Internet nachlese –, 1920 aus einem Verpackungsschuppen gesendet. Ein gelungenes Experiment! Wie die ganze Anlage dieser Komposition und der ganze Abend.
@ Und dann ist da «Mirror Piece» 2022, von Lara Stanic: Sie bezieht sich auf ein Fluxus-Stück von Mieko Shioimi aus dem Jahre 1963. Die Original-Anweisung damals: «Stand on the sandy beach with your back to the sea. Hold a mirror before your face and then step back at the sea and enter into the water».*2 Lara übersetzt die Anweisung quasi in unsere Zeit: Die Reflexionen der Spiegel werden von Scheinwerfer-Prismen verfolgt. Wenn sie denn auf etwas treffen, erzeugen sie einen Ton, so wie die Kugeln im Spielautomaten ‘blingen’. Weil wir im Dunkeln sitzen, wird dieses Fluxus-Stück zum Paintball-Spiel. Auch mein Gekritzel im Dunkeln, das auf dem Papier ins Unleserliche abfällt, ist diesem Vabanque-Spiel ausgesetzt.
@ Und nicht zuletzt «Words on Windy Corners» 1980, von Alvin Lucier. Hier spielen Stimmen, Tonbandverzögerungssysteme und bewegliche Lautsprecher so, dass es Rückkoppelungen gibt. Alvin Lucier nennt diese «elektrischer Wind». Vier Performende und vier Lautsprecher: Egal was sie sprechen, ob es um «Blut- und Leberwürste» geht … «dem echten Anfang der berühmten Champagnerkugeln» … , ein Cluster-Cocktail entsteht. So tönt auch Small-Talk, wie an weiss ich welchen Vernissagen, in Konzert-, Konferenz- und anderen Pausen, wo alles Gesprochene in einem Wort-Kuddelmuddel strandet. Die einzelnen Sätze werden bedeutungslos, könnten aber gar im Traum als konkrete Geister-Wörter-Sätze wieder auftauchen. Was geht da ab, wenn die Performenden gleichzeitig reden und einander hören, und was wenn wir die Anwesenden das polyphone Klang-Purée hören und die Sätze des Geredeten gleichzeitig mitbekommen wollen? Meine Ohren fangen immer wieder «Champagnerkugeln» auf. So könnte Small-Talk auch zu Fake-News werden: Gesagtes-Gehörtes dreht sich im Kreis, bis unsereins gar nichts mehr versteht, nur einzelne Wörter und Sätze herauspickt und sich daraus eine Neuigkeit zimmert, die sich überschlägt und ein Nachrichten-Beben auslöst.
# Der andere Strom dieses Konzert-Abends zieht in die Welt der direkten sinnlichen Substanz. Ortlos und wortlos spielt er geradezu auf unsere Körper: Vibrationen, somatisch und chromatisch (was bunt meint) ziehen in Zwischenbereiche der Wahrnehmung, in andere Dimensionen, in einen ‘Outer-Space’.
@ Da ist «Bruchstücke – vom Rande her» 2021-2022, von Peter Streiff, im Auftrag des GingerEnsembles komponiert. Die Musiker:innen hantieren, ja performen mit Gitarre, Querflöte, Elektronik, Papier, organisieren mit klanglichen Verständigungssignalen ihr Zusammenspiel. Akustische Kieselsteinchen entwickeln eine Eigendynamik, sie prallen aus verschiedenen Richtungen an uns heran: von hinten links, von vorne, sogar von unten und auch unbestimmt von woher. Da ‘chrosets’ und ‘chrüselets’ in den Körper hinein und wieder hinaus. Auch mein Stift auf dem Papier tönt, alles wird Ton. Mich umdrehen will ich nicht, um zu eruieren, woher die Klangquellen kommen, wie sie entstehen. Ich lausche den Geräuschen, sie erzeugen das Echo eines zerriebenen Alltags, aus einem Werkhof oder von einem Kieswerk. Wie sieht die Partitur aus?
@ Und da ist «Profil» 1968 / rev. 1975, ebenfalls von Peter Streiff. Im Programmblatt wird angekündigt: «In einer kreisförmigen, Ritual ähnlichen Aufstellung spielen die Ausführenden …» und «… Profil dauert eine ganze Weile». Wie fände das Komponist Peter Streiff, wenn ich den Titel wortwörtlich nähme: Profil Französisch könnte für ‚Seitenansicht' und ‚Schattenriss‘ stehen, über das Italienische aus dem Lateinischen für ‘filum’ ‘Faden‘. Hier werden von den Instrumenten – je drei stehen jeder/jedem Performenden zur Verfügung – Resonanzlinien erzeugt und wie Fäden durch den Raum gespannt. So zieht gerade jetzt der Saitenklang der Geige hinter mir alle anderen Klänge an sich. In diesem Werk verschwinden die Musiker:innen. Der Wunsch nach Übereinkunft, der nicht erfüllt werden kann, scheint im Raum zu hängen. Wer schaut auf wen, wenn die Performenden je anders z. B. auf ihre Klang-Becken schlagen, die Timbres der Töne, ihre Klangkolorite in einer Kreisbewegung sich weiterreichen, irgendwie synchronisieren und dann verebben? Ich ergebe mich dem langen, langen Nachklingen, ich bekomme heisse Ohren. Wie sich alles zueinander verhält, will ich jetzt ‘grad’ nicht verstehen.
@ Und «R I N N E N» 2022, von Klara Schilliger. So wie dieses Wort hier gespreizt geschrieben steht r i n n t u n d r i n n t u n d r i n n t i m m e r a n d e r s d e r s a n d. Vorne rechts tönt Sand – den die Performenden auf verschiedene Objekte rieseln lassen – anders als hinten, von dort klingt er dumpf. Von links klingt er kristallin und von rechts trocken und papieren. Von vorne links träufelt er regennass. Auch hier will ich nicht genau sehen, wie die Geräusch-Klänge gemacht werden, schliesse die Augen und lasse sie durch mich hindurchrinnen. Die dumpfen Schläge zwischenhinein sind Orientierung, sie holen uns immer wieder ins Jetzt, sonst würden wir uns im Geriesel-Rinnen v e r l i e r e n. Eine Keine-Zeit rinnt durch den Körper-Raum, gerinnt nirgendwo, zeitlos und ortlos.
Das Ganze ist schön unaufgeregtes Tun – alle sind Sender und Empfänger, auch die Zuschaueden und Zuhörenden. Alles ist komponiert und doch so frei und weit. Die entschlossen wirkenden Kompositionen sind raumgreifend. Töne und Klänge von Ding-Geräten, Materialien und Wort-Stimmen splittern sich uneinheitlich und vielfältig auf. Mit dem wassergestimmten Glasspiel, Klanggeräten und -Instrumenten wie Crotales, Blechen, Querflöte, Geige, Radios, Gongs und Becken, mit Handspiegel, Kameras, auch bewegte Lautsprecher, den Tape-Delays und elektronischen Klängen werden echt wirkende Klang-Erfindungen zu Raumgeistern. Die Werke des GingerEnsembles haben die Qualität von Palimpsesten, weil sie nicht dingfest machen wollen; sie erinnern an etwas und entziehen sich diesem Etwas wieder. Hier findet ein komplexer Perzeptionsprozess eines chiffrierten Inhalts statt. Er ist verschriftlicht mit Noten-Worten und Anweisungen, die in Kompositionen gefasst sind, um anschliessend wieder über Handlung in Erfahrung zurück-entschlüsselt zu werden. Das Kofferwort Extimité von Jacques Lacan, das ich wo gelesen habe, passt zu diesem Erlebnis. Hierin verzahnen sich die Wörter Intimität und Extremität: Intim und einzigartig ist, wie die Klänge an einen körperlich herankommen. Dieser äussere Rahmen mit dem Titel «Ausgerenkte Kräfte - Forces Disloquées» verknotet sich mit dem Erleben zu etwas Drittem, in dem, wie im Gemälde von Schwitters ebenfalls Kräfte neu zusammengesetzt werden. Es lädt ein, sich einzulassen in eine Anderswelt, die in Beziehung steht zu unserer täglichen Wirklichkeit, wo Geräuschpegel und Aktivitätsbarometer immer wohin ausschlagen, Feineres übertönen und stumpf machen können … Dieses Konzert ist Übung für fokussiertes Da-Sein und es lässt die Sinne aufpoppen …
*1 «Der liebevolle Erzähler», Kampa Verlag, 2020, S. 32.*2 Mieko Shiomi «mirror piece», 1963, d Moma Website
GingerEnsemble, Ausgerenkte Kräfte – Forces DisloquéesGingerEnsemble: Cyrill Lim, Valerian Maly, Klara Schilliger, Lara StanicGast: Peter StreiffTechnikerin: Lisa MarkAm 30. Oktober 2022 um 19 Uhr Konzert und um 18.30 eine Einführung von Valerian Maly im Kunstraum Walcheturm, Kanonengasse 20, 8004 Zürich
April 2023 © Dorothea Rust author, artist, 8003 Zurichrust.doro@bluewin.ch, www.dorothearust.ch