Christoph Schuller:
Entweder – Oder
Christoph Schuller schreibt nach der Premiere von «A oder B – performatives Konzert für 7 AkteurIinnen, Objekte, Live-Video und teilnehmendes Publikum» von Steffi Weismann am 16.06.2021 im Ballhaus Ost Berlin.
A oder B? Links oder rechts? Englisch oder Deutsch? Oben oder unten? Ost oder West? Anfangen oder Enden? Frage oder Antwort? Objektiv oder subjektiv? Beschreibung oder Deutung? Wo möchten Sie weiterlesen? Entscheiden Sie sich bitte!
– A –
Ich stehe vor dem Eingang vom Ballhaus Ost (Berlin). Warten auf meinen Einlass. Ich soll eintreten. Einzeln, still, zügig. Ein kleiner Raum, zwei blaue Türen mit einem großen weißen A und einem großen weißen B. Ich soll eine der beiden Türen wählen. A! Die Tür geht auf. Ich trete ein, folge den Pfeilen auf dem Boden und setze mich auf die zugewiesene Seite der mittig geteilten Publikumstribüne. Der ganze Raum ist geteilt durch ein leuchtendes LED-Seil. Vor mir nun die Bühne mit zwei sich gegenüber sitzenden PerformerInnen. Sie spielen mir auf einem knallroten Mini-Klavier und mit weiteren Utensilien einen Jingle. Ganz vorne eine große ebenso geteilte Leinwand. Sie zeigt den Entscheidungsraum mit den sich Entscheidenden. Nach und nach füllen sich die zwei Tribünen.
– B –
Etwas ungewohnt, nach langer Zeit wieder in ein Theater zu einer Live-Performance zu gehen. Und dann auch gleich zu Beginn mit einer Existenzialfrage konfrontiert zu werden: A oder B? B! Ich nehme bereits jetzt wahr, dass das Publikum nach monatelanger Abstinenz wohl wieder eine Rolle in Performancekunst spielen wird? Der Titel des Stücks hält in konsequenter Weise, was er verspricht: A oder B? Entweder – Oder, Links oder rechts, Mann oder Frau, oben oder unten? Wir sind gefragt. Vor mir zwei hochkonzentrierte PerformerInnen, die den Eintretenden ihrer jeweiligen Seite ein Stückchen spielen/klopfen/pfeifen. Gehört das schon alles zur Performance? Eine musikalische Begrüßung der eintreffenden Teams? Die Normalverteilung scheint zu greifen, denn Tribüne A und Tribüne B werden gleichmäßig voll. Die Teams sind gesetzt, die Plätze belegt, ein bisschen wie bei einem Fußballspiel.
– A –
«Warum hast du A genommen?», fragt eine Frau der anderen Seite einen Mann von meiner Seite. Es beginnt ein Streitgespräch. Beide rechtfertigen sich, argumentieren für den eigenen Buchstaben. Erst auf Deutsch, dann Englisch. Gute Gründe auf beiden Seiten. Anschließend eine sich abwechselnde Choreographie der Buchstaben. Unentschieden!
– B –
«Warum hast du A genommen?», wird die andere Seite gefragt. Das könnte ich auch mich fragen: Warum hast du B genommen? Ich weiß es nicht. Kann man es wissen? Was sind denn Gründe für Entscheidungen? Die Performerin hilft mir weiter. B steht für so vieles: brave, beauty, best und so weiter. Wir haben einen Plan B, weil Plan A eben scheitert. A dagegen ist antriebslos, albern, langweilig. «Ist das überhaupt ein Buchstabe?» … Oder doch lieber A? A ist der Anfang, außergewöhnlich. A ist natürlich, offen, schön. Ein Laut des Verstehens, des Licht-Aufgehens, des Annehmens. B ist blöd, breit, fett. «Buchstaben-Bodyshaming!», lautet der berechtigte Vorwurf.
– A –
An beiden Wandseiten werden abwechselnd Teppiche geklopft. Das Licht richtet sich jeweils auf die gerade schlagende Gruppe. Eine dritte kommt hinzu: Videoaufnahmen auf der Leinwand. Eine Berlinerin schaut aus dem (Video-)Fenster und kommentiert die winterliche Teppichklopfaktion im Wohngebiet amüsiert. Zunächst noch Abwechseln und Kräftemessen der Teams. Dann die Steigerung. Die Beleuchtung wechselt immer schneller, der Lärmpegel nimmt mit der rhythmischen Komplexität zu. Der Schall kommt von allen Seiten und prallt gegen alle Seiten. Alle gegeneinander zu einem ohrenbetäubenden Krach.
– B –
Ist das früher so alltägliche Teppichklopfen heute nur noch ein Überbleibsel aus der Vergangenheit? Jedenfalls wirkt es – für jemanden, der das in seinem Lebenslauf anscheinend verpasst hat – ziemlich archaisch, roh. Beide Gruppen scheinen die anderen überbieten zu wollen. Dann kommt auch noch eine dritte als Videoaufnahme hinzu. Wer gewinnt den Wettkampf? Es ist ein wortwörtliches «Konzertieren» der rhythmischen Krach-Mehrstimmigkeit.
– A –
Zwei Performerinnen. Eine steht weiter hinten und hält ein Mikrofon an die Stimmbänder. Körpergeräusche, Herzklopfen, Atmen, anschwellendes Rauschen, Vibrationen, Stimmklänge. Die zweite Performerin im Vordergrund zeigt eine andere Seite des Teppichklopfers. Berühren, biegen, bewegen, belasten, aber doch nicht brechen. Auch wenn er bedrohlich knarzende Geräusche von sich gibt.
– B –
Es ist spannend zu sehen, wie das zuvor noch so brachiale und unerbittliche Instrument im leidenschaftlichen Tanz zwischen Performerin und Teppichklopfer ganz innig gebogen, umschlossen, gedehnt und an das Gesicht geführt wird. Eine Zerreißprobe, der es überraschend gut standhält. Die Stimmklänge und mikrofonierten Körpergeräusche aus dem Hintergrund der zweiten Performerin untermalen die Szene akustisch und lassen sie auf mich noch innerlicher und lebendiger wirken.
– A –
Augen in Großaufnahme auf der Leinwand. Sie gehören zu einem nah vor einer Kamera sitzenden Performer und schauen mal frontal uns, mal seitlich die Umgebung an. Dazu ein wissenschaftlicher Vortrag zum Auge, was es kann und wie wir wahrnehmen. Und ein Wahrnehmungsspiel für Publikum: Strecken Sie Ihren Zeigefinger auf Augenhöhe vor sich und gerichtet auf ein wenige Meter entferntes Objekt aus. Fokussieren Sie abwechselnd Ihren Finger und das entfernt anvisierte Objekt. Was passiert?
– B –
Wie in einer Vorlesung höre ich Wissenswertes zum Auge. Die vortragende Stimme hat einen beruhigenden und kompetent wirkenden Wissenschaftlersound. Viel Text, aber interessant, denn Wahrnehmen ist Entscheiden, Sehen ist entscheiden! Also ist Sehen immer selektiv. So auch das Fingerexperiment: Je nachdem was anvisiert wird, verdoppelt sich der Gegenspieler. Wir sehen eben immer doppelt, obwohl es uns so eindeutig scheint.
– A –
Wieder Klangperformance. Die PerformerInnen halten sich weiße Pappteller vor das Gesicht und fahren auf der Vorderseite mit einem mikrofonierten Stift entlang. Hohe und tiefe Reibelaute. Weitere PerformerInnen kommen hinzu. Andere Bewegungen auf dem Teller, neue Sounds.
– B –
Tiefe und hohe Klänge, ein Auf- und Ab erzeugt von den weißen Papptellern hallen aus den verteilten Lautsprechern durch den Raum. Der Alltags- und Wegwerfgegenstand erzeugt durch die Bespielung der PerformerInnen eine faszinierende Weite von hohen und tiefen Reibelauten. Verschiedene Handbewegungen erzeugen eine bunte Vielstimmigkeit auf dem unscheinbaren Instrument.
– A –
Ein Performer bewegt einen langen gebogenen Stab in der Luft. Ein Mikro am Ende fängt die Luftgeräusche ein, die bei den Bewegungen erzeugt werden. Mit der Spitze bekommt er einen Sack gefüllt mit grünen Schaumstoff-Verpackungschips zu fassen. Er hebt ihn langsam in die Höhe und lässt die Chips herunterschneien. Der Inhalt verteilt sich auf dem Boden.
– B –
Beschränkt auf seine Seite A (Die LED-Linie verbietet nach wie vor ein Passieren) durchquert ein Performer mit einem langen Schwingstab den Luft-Raum. Endlich ein Durchbrechen der Binarität? Die Grenze überwunden? Eine Teilung hat ja durchaus Bedeutung für Berlin. Die durch das Mikrofon eingefangenen Geräusche sind je nach Bewegung schneidend, leise, laut. Klang und Bewegung gehen ineinander. Zum Luftrauschen kommt das Knistern eines Müllsacks hinzu, der mit der Mikrofon-Spitze aufgehoben wird. Die kleinen Verpackungschips werden hinübergeholt und fallen in den Raum auf beide Seiten.
– A –
Zwei Performerinnen. Die kleinen Chips am Boden entpuppen sich nun als Performance-Material. Auf einer stehenden Glasscheibe werden die befeuchteten Wegwerfobjekte zum Quietschen gebracht. Dazu ebenso schrille, hohe, abgehakte Stimmsounds. Weiter vorn eine liegende Performerin, die mit ihren nassen Fingern auf mikrofoniertem Glas Quietschgeräusch erzeugt. Die Videoleinwand zeigt eine Person die durch Tümpel watet. Wasser- und Naturgeräusche.
– B –
Wieder ist ein scheinbar belangloser Alltagsegenstand im Fokus und entfaltet im neuen Kontext Wirkung. Die nassen, unscheinbaren Verpackungschips erzeugen eine Fülle an Sounds. A: Stehend an einer Glasscheibe erklingen Chips und Stimmsound im Duett. Die Performerin scheint die Klänge mit ihrer Stimme zu imitieren. Was normalerweise im Müll landet – oder nicht selten auf dem Boden (wie vorhin) –, ist nun das Objekt von Interesse. B: Liegend fährt die Performerin mit ihren Fingern auf einer Glasscheibe entlang. Im Video pendelt der Kescher eines Kindes vor und zurück und schlägt dabei abwechselnd auf der Wasseroberfläche auf.
– A –
Alle treten auf. Viele bringen ihre Objekte und Performances wieder hervor. Eine Vielzahl an Aktionen und Klängen. Es sieht nach Abschluss aus. Überall Klänge aus den Lautsprechern und Aktionen. Kein Gegeneinander mehr. Zwei bespielen gemeinsam mit rotierenden Münzen ein gewölbtes Blech und erzeugen im Miteinander metallene Sounds. Ein Performer nimmt währenddessen das trennende LED-Seil in die Hand. Er geht langsam auf die Tribünen zu. Der Spalt zwischen uns ist sein Ausgang aus dem Gebäude. Hinter der Tribüne das Tor. Das Fenster nach draußen ist offen. Er gibt die zusammengeknüllte Leuchtgrenze wieder hinein.
– B –
Wie in einem letzten Tutti treten die PerformerInnen mit ihren Parts wieder auf die Bühne. Die bisherige strikte Unterteilung ist aufgehoben. Analog zum Sound wird die visuelle Grenze, das Leuchtseil, beseitigt und aus dem Raum geführt. Es bleibt ein offener Raum mit AkteurInnen. Wer gewonnen hat, lässt sich nicht sagen. Vielleicht ging es aber gar nicht darum, sondern zu erforschen, was passiert, wenn wir Zweiteilung verstärken oder aufheben. Ich beginne mich zu fragen, ob unsere ganze Welt (von Alltag über das Soziale bis hin zum eigenen Leben) nicht von Zweiteilung durchzogen ist. Immer wieder die zwei, das Entweder – Oder. Vor allem unser eigener Körper und unser Erleben sind so eingerichtet. Manchmal miteinander, manchmal gegeneinander. Nicht selten hindern uns Grenzen daran. Und bei alledem treffen wir ununterbrochen Entscheidungen.
Titel: A oder B – performatives Konzert für 7 AkteurInnen, Objekte, Live-Video und teilnehmendes Publikum
Komposition, Choreographie, Bühne, Video: Steffi Weismann
Datum: Premiere am 16. Juni 2021
Performance: Özgür Erkök-Moroder, Fernanda Farah, Lorena Izquierdo, Ariane Jessulat, Henrik Kairies, Christian Kesten, Katarina Rasinski
Anlass: Eine Produktion von Steffi Weismann und der Maulwerker in Kooperation mit dem Ballhaus Ost. Gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds, mit Unterstützung von Errant Sound e. V.