Andrea Saemann:Wer lässt sich verzaubern im Feld der Performance Kunst?
Andrea Saemann schreibt nach der Performance «Dizem que quando o mar nAo tem peixes chegam as medusas» von Maja Lascano am Samstag 30.09.2023 anlässlich von «Doce en Diciembre – Ediçao Brasil 2023» in der Casa França-Brasil in Rio de Janeiro.
Wenn ich als Publikum an Performance Kunst teilhabe, begegne ich (Un)Sinn und riskiere Transformation. Denn Sehen ist eine Bereitschaft des Daseins. Hinaustreten aus der Gedankenwelt, die Sinne schärfen und die äusseren und inneren Bewegungen zulassen. Ein Gefühl als ob Wellen die eigenen Grenzen umspielen.
In Rio de Janeiro habe ich anlässlich des Events «Doce en Diciembre – Edição Brasil 2023» die Performance der argentinischen Künstlerin Maja Lascano gesehen. Das Programm der Casa França-Brasil nannte den Titel der Arbeit: «Dizem que quando o mar não tem peixes chegam as medusas» (Man sagt, wenn das Meer keine Fische hat, kommen die Quallen).
Früher legten die Schiffe unmittelbar hinter dem Gebäude an – dem ersten Handelsplatz der Stadt. Heute öffnet sich sein Eingang auf der gegenüberliegenden Seite zur Stadt hin. Maja Lascano tritt von hinten auf, taucht quasi aus dem Meer auf und sucht als gestrandete Qualle den Ausgang. Ihr Kopf und ihre Schultern tragen ein Schmuckstück, Greifarme, die wie filigrane Rispen in schillernden, perlmuttfarbenen Beuteln erblühen. Ein Fischernetz voller Medusenblüten zieht sie hinter sich her. Goldig und strahlend die Erscheinung.
Aktuell sind in der Casa França-Brasil grosse, farbige Eisenplastiken von Franz Weissmann ausgestellt. Mittendrin nun Meduse – Weissfrau – weich und aufrecht, die sich Blüten auf die Fingerspitzen steckt. Langsames Gehen. Blüten berühren die Kanten der Skulpturen, zeichnen nach, gleiten ab und weiter. Durch die hohlen Räume einer grellgrünen Plastik schickt sie Blicke und einen schlanken Arm, reicht einen Beutel, verschenkt Blüten, verschenkt sich. Nicht von dieser Welt und doch Mensch ist die Künstlerin selbst längst Blüte, Qualle, Heiterkeit geworden. Am Ausgang angekommen, verlässt Meduse den Ausstellungsraum und mischt sich ins Treiben der Stadt. Dort ist sie gänzlich ausgestellt.
Samstagnachmittag. Eltern mit Kind gehen um die Strassenecke. Kurzes Zucken, das Mädchen schaut sich um. Eltern blicken. Meduse schaut zurück und reicht Blüte. Zögern. Wegschauen. Schauen auf den Weg. Zögerliche Blicke, Schritte des Vaters zurück zur gereichten Blüte. Der Vater nimmt und überbringt. Die Blüte ist für das Kind.
Meduse geht weiter zum Nachbarhaus. Das Centro Cultural Banco do Brasil ist ein öffentlicher Raum mit Läden, Bar, Bank und Sitzbänken. Meduse passiert den Eingang. Die Wachen sind wach, sie lächelt, sie schmunzeln. Meduse geht auf die Mitte zu, wo eine Glaskuppel den zentralen Raum überspannt und Marmor das Deckenrund am Boden nachzeichnet. Meduse stellt sich auf den Kreis und schreitet ihn ab. Gegen den Uhrzeigersinn. Langsam und mit ausgebreiteten Armen wird sie, der Raum und die Situation eins und licht wie die Kuppel. Sie schliesst den Kreis und verlässt das Haus als Braut mit Schleier und Schleppe. Gerade rechtzeitig. Die Aufsicht regt sich.
Begegnungen sind Zufälle. Begegnungen fallen zu. Fangen Hände den Ball? Störungen sind Wegweiser. Störungen weisen Weg. Gehen Füsse Weg und weichen ab? Erst wenn wir Zauber zulassen, verändert sich Form und formt sich um die Ecke, wandelt wie Meduse, wenn das Meer keine Fische mehr… Maja Lascano hatte am Strand in Argentinien Quallen und Medusen schwimmen sehen und sich verzaubern lassen, wie sie mir erzählt. Medusa, welche gemäss Wikipedia «in der griechischen Kunst ursprünglich als von Geburt an missgestaltet angesehen» wird, verwandelt sich in diesem Aufeinandertreffen zur Meduse, einer performativen Schönheit mit transformatorischem Potential.
Zum Event«Doce en Diciembre – Edição Brasil 2023» ist das 3. Performance Event in einer Kollaboration von Künstlerinnen aus der Schweiz und Südamerika. In der Casa França-Brasil in Rio de Janeiro waren am 30.9.2023 folgende Performerinnen beteiligt: Nicole Boillat, Luján Funes, Gisela Hochuli, Paola Junqueira, Maja Lascano, Cinthia Mendonça, Barbara Naegelin, Chris Regn, Dorothea Rust, Andrea Saemann, Jazmín Saidman
Zum TextDer Text entstand auf Anfrage der Zeitschrift Rhythmik und erschien in der No 44 im November 2023 als Einleitung zum Thema Transformation.d PDF Erstveröffentlichung