Andrea Saemann:über Figuren, Angela Stöcklin und ein Empfangskomitee
Andrea Saemann schreibt nach der Performance «Tremolo» von Angela Stöcklin am Mittwoch 13.07.2022 anlässlich der Surprise Performances von «PANCH Soziale Eleganz» im Park des Museum Tinguely Basel.
Trallala. Nein. Tremolo. Eine Überraschung, eine Surprise Performance, wie Mirzlekid sie abends vor dem geschlossenen Museum Tinguely ankündigt.
Sie stellt sich hin. Sie zittert. Alles an ihr zittert. Die Figur trägt Perücke und Stöckelschuhe, einen Jupe, eine Bluse und drüber ein blumiges Jäckchen. Strümpfe, die halten und nicht halten. Vieles rutscht in dieser Assemblage. Die Haare sind schwarz und haben kurze Fransen. Sie müssen aus dem Gesicht gestrichen werden. Unter dem Jupe löst sich ein Hosenbein und fällt über das Bein nach unten. Es soll unter dem Jupe bleiben. Es gibt zwei Hosenbeine, die auf diese Weise rutschen und in Schach gehalten werden müssen. Das Jäckchen fällt von der Schulter und muss wieder nach oben geholt werden. Beiläufig alles. Im Zittern drin. Der Blick richtet sich vor allem nach unten, oder nach innen. Die Handlungen vollziehen sich blicklos. Nebenbei. Die Stoffe sind leicht und gleiten, wie die Strümpfe, die schwarzen Hosenbeine, die Bluse, das Jäckchen. Die Gesten sind präzise und vertraut. Schlafwandlerisch, auch wenn sich die Augen nie schliessen.
Auch wenn sich die Augen schliessen. Dabei denke ich an meine Busfahrten vom Kleinbasel rüber zum Hauptbahnhof, vorbei an der Spitalapotheke und der Drogenabgabestelle, wo ich zuweilen Passagieren zuschaue, wie sie nicken, einnicken, aufschauen, einnicken und nie die richtige Haltestelle beim Kinderspital verpassen. Auch nie ihre Tasche vergessen. Denn sie haben alles im Griff, auch wenn sie die Augenlider wiederholt über ihre Augäpfel fallen lassen.
So wie das Zittern die Figur im Griff hat, so hat sie sich selbst im Griff und kennt alle Gesten, die sie uns zeigt und nicht zeigt, mit denen alles was so dahingleitet und von ihr abfällt, zurechtgerückt wird. Irgendwo ist ein Bewusstsein des Zeigens, als eine Aneinanderreihung von gestischen Zeichen. Irgendwer will sagen: Alles okay. Alles okay.
Einmal lächelt sie. Andere sagen später, zweimal oder dreimal habe sie geschaut und gelächelt. Als wolle sie uns besänftigen. Ihr zittriges Elend besänftigen im Blick rüber zu uns. Alles ist okay. Alles ist sie. Alles ist bei ihr. Eine ausgestellte Figur.
Woher sie das alles weiss. Woher sie um all diese Gesten weiss und sie uns vorführen kann. Wie sie – scheinbar ohne zeitliche Begrenzung – diese Figur sein kann. In ihr haust. Und wir sitzen davor. So allein wie die Figur, so allein sind wir ihr Gegenüber. Jedoch komplett alleingelassen. Denn ihre ganze Aufmerksamkeit ist aufgebraucht, von der Herstellung dieser Normalität, die sie mit ihren Gesten endlos herzurichten versucht.
Dann stehe ich auf und tausche mich kurz aus mit anderen, die sitzen. Ich habe ja die Freiheit mich zu verbinden, auch wenn ich dabei meine Aufmerksamkeit für einen Moment von ihr löse. Dann kehre ich an meinen Platz zurück, bin wieder Publikum. Tremolo geht weiter.
Später geselle ich mich zu zwei Schwestern, in weissen Mänteln, mit Stethoskop und Kochhüten und spiegelnden Sonnenbrillen, die parallelisieren, in ihrer Kleidung, in ihrer Kopfhaltung, wie ich auf sie zulaufe. Sie stehen am Rand des Geschehens, welches sie beobachten. Ausserirdische. In diesem stillen Einvernehmen, welches sie verbindet und mich zur Anderen macht. Eine Begegnung der anderen Art. Mit kleinen Taschenventilatoren begrüsst mich dieses Empfangskomitee, still, lässt mich den Fahrtwind spüren, von der weiten Reise ins Hier und Jetzt.
Eine sagt: Schau, nun hat sie ihr Publikum verloren.Sie meint die Figur. Die Figur habe ihr Publikum verloren. Die Figur, die mir gerade zuvor so viel Einsamkeit vermittelt hat, dass ich beinahe hätte weinen wollen. Die Figur, die nicht überprüft, ob ihr jemand zuschaut, denn die Gesellschaft ist eingraviert in ihrem Kopf, in ihren Händen, in ihren Gesten, in ihrem Benehmen, alles erzählt von der Instandsetzung einer vorgestellten Normalität, eines kontrollierenden Aussenauges, so, dass nichts mehr übrig bleibt für einen Blick nach draussen. Hin zu einem Publikum. Sie ist die allerletzte, die Energie übrig hätte, sich um ein Publikum zu kümmern.
Wenn man ein Publikum verlieren kann, kann man es denn gewinnen? Vor 30 Jahren habe ich mal auf ein Kärtchen geschrieben: Das Publikum will bekümmert sein. Oder hiess es: Deinem Publikum Sorge tragen. Mit Ausrufezeichen. Damals meinte ich: Andrea, jetzt richte dir mal einen guten Emailverteiler ein, wo du alle Leute reinnimmst, die an deiner Arbeit interessiert sind, oder die sich für deine Arbeit interessieren könnten. Darren Roshier stellte uns zu Beginn seiner Performance Fragen und forderte uns wiederholt auf, ihm zu antworten. Er sagt mir danach, er brauche das, um zu spüren, dass nicht nur er, sondern auch wir mit ihm anwesend seien.
Die Figur zittert noch immer. Sie verliert den Schuh, die Jacke, die Hose, sie entgleiten ihr, so wie sie sich selbst entgleitet. Wie können wir für die Figur Publikum sein? Sind wir ihr nicht auch schon längst entglitten?
Der Unterschied zur heimlichen Beobachtung der fallenden Lider im Bus: ich sehe, ihre Augen fallen nie zu. Mit offenen Augen hat Angela Stöcklin die Reise angetreten in die Gegenwelt dieser Figur. Alles nur vorgestellt, alles nur nachempfunden, nichts aus einem eigenen Bedürfnis heraus zurechtgerückt, ausser dem nach dem Aufrechterhalten eines Anflugs von Normalität.
Ich erinnere mich, wie Rainer Maria Rilke in seinem Buch Malte Laurids Brigge über mehrere Seiten hinweg einen Herrn in Paris beschreibt, wie dieser Herr über eine Brücke geht, mit einem Stock im Rücken. Mit seinen Händen umfasst er diesen Stock und drückt ihn sich in den Rücken als eine Art Ersatz für die Wirbelsäule, der Hoffnung auf Aufrechtheit. Der Herr geht, stockt und zuckt und versucht mit dem Stock im Rücken Haltung zu wahren. Ungehalten klammert er sich an, schummelt, unterdrückt und bleibt aussichtslos im Kampf um die eigene Körperbeherrschung. Unter aller Augen bricht der Veitstanz aus.
Wie kann ich Publikum sein, für eine, die um die eigene Anwesenheit ringt, für eine, die mir dieses Ringen vorführt, weil sie es genau beobachtet hat. Wie kann ich die beiden nicht verwechseln in ihren unterschiedlichen Virtuositäten und mich mir selbst zuwenden. Mit einem Blick, der keine Normen kennt, mit keinem Blick. Schau, nun hat sie ihr Publikum verloren.
Text Andrea Saemannanlässlich von PANCH Soziale Eleganz, Museum Tinguely BaselResonanz in Sprache 21.7.2022, 17h Schreiben, 19h Lesenmit Mirzlekid, Lilian Frei, Judith Huber, Andrea Saemann, Ursula Scherrerzu den Performances Tremolo von Angela Stöcklin und Empfangskomitee von Lilian Frei, Ursula Scherrer