Andrea Saemann:
Damenball in Ö
Andrea Saemann schreibt anlässlich von «Resonanz in Sprache» über die Performance «Damenball in Ö» von Mo Diener, welche 1989 im Kunsthaus Oerlikon in Zürich stattgefunden hat.
1989
Ich sehe: Fünf Fotos. Eines davon sehr schummerig, wohl ein Videostill. Ich sehe: ein knapp vierminütiges Video.
Der Raum ist abgedunkelt. Figuren hängen im Raum, aus Zeitungspapier oder aus Stoff oder Kleid. Sie sind schemenhaft zu erkennen. Ich erkenne zwei Brüste, als wären es zwei Köpfe, die am Körper runter gerollt sind. Eine Figur hat fünf Arme, vor einer Figur hängt ein roter Regenschirm. Eine Figur erscheint lose zergliedert, mit Löchern da wo die Gelenke sind, décomposé, marionettenähnlich. Dazwischen beginnt sich eine Figur zu bewegen. Diese Figur hat ein Cello und zupft an den Seiten. Dann streicht sie den Bogen. An dieser Cellistin sind an den Fuss-, Hüft- und Schultergelenken links und rechts kleine Lichtlein befestigt und markieren die Scharniere, ihre Gelenke. Am Cellobogen sind Nylonfäden befestigt und manipulieren die Figuren. Die Cellistin manipuliert den Cellobogen. Auch sie ist in Zeitungspapier eingepackt, in eine Haube aus Zeitungspapier, trägt um den Körper Zeitungspapier, um Beine und Arme Zeitungspapier. Die Hände sind frei. Damit spielt sie das Cello und hält den Bogen und manipuliert. Die Cellistin steht und springt und bewegt sich, als Figur zwischen den bewegten Figuren. Auch sie scheint wie ohne Boden zu sein, in ihrem hin und her. Auch sie scheint ihre Gelenke verloren zu haben, hinter den Punkten der Lichter.
Die Fotos zeigen bunte Eimer, zeigen die Cellistin ohne Zeitungspapier. Die Fotos zeigen Momente des Entstehungsprozesses. Das Video ist von der Aufführung selbst, geschnitten und in schlechter Auflösung. Das Cello klingt und krächzt und verstummt im Moment, als es neben der Cellistin auf dem Boden zu liegen kommt.
Und nun kommt der Abspann. Die Künstlerin trägt ein Headband und ein blumiges Kleid, hält Zeitungspapier und schaut in die Kamera, auch wenn sie auf dem Kopf steht. An der Wand hängen Folien mit den Infos zur Performance. Ja, den Abspann performt die Künstlerin im Blumenkleid mit offenem Haar. Wie eingerahmt vom langen, graden, braunen Haar gibt ein kurzer Pony ihr Gesicht frei. Angekommen in der Zeit. Irgendwie amerikanische Anklänge. Gefallen aus der Zeit. Gefallen aus der Zeitung. 29.9.89. 30.9.89. Zweimal wurde die Performance aufgeführt. Ein guter Monat dauert es noch bis die Mauer fällt.
Geschnitten hat das Video Stefan Jung, damals Mitglied des Kollektivs Videowerkstatt Zürich. Später forschte er im Bereich Visual Communication in Zusammenarbeit mit dem Institute for the Performing Arts and Film. Heute ist er Regisseur für den Kulturplatz SRF und arbeitet am Film «Lydias Protokoll», über Lydia Welti-Escher, die Tochter des Politikers und Wirtschaftsführers Alfred Escher. «Aufgrund einer ausserehelichen Liaison hatten die Schweizer Behörden die Einlieferung in die Psychiatrie veranlasst.», heisst es auf dem Portal Swiss Films.
2016
«Das Projekt Art Dock wurde 2013 ins Leben gerufen und hatte den Zweck Nachlässe von zeitgenössischen Zürcher Künstlern der Nachwelt zu erhalten. (…) Bis 2019 hatte sich zeitgenössische Kunst und Nachlässe von 123 Künstlern im Güterbahnhof angesammelt.» 2016 wurden in der Ausstellung «Frauenpower!» Werke von 144 Zürcher Künstlerinnen der letzten 100 Jahre ausgestellt wurde. Mo Diener hat in der Zwischenzeit das Originalvideomaterial in einer Schachtel gefunden und es aus Anlass der Ausstellung neu editiert. Zwei Kameras hatten damals das Geschehen gleichzeitig festgehalten. Zu Beginn sieht man den Kameramann von der einen Kamera zur anderen laufen. Ein Kameramann mit zwei Kameras. Schuss, Gegenschuss. Das Video vereint die beiden Bilder in einer Doppelprojektion. Das linke Bild ist immernoch relativ flau, das rechte Bild zeichnet die Kontraste. Aus knapp vier Minuten sind sechs Minuten geworden. Die Cellistin und die von Geisterhand bewegten Figuren teilen sich die Bildfläche und gleichen sich an. Links wie rechts.
Vor meinem inneren Auge sehe ich erneut die Stoffe und Kleider, leere Hüllen aufgehängt zu Figuren im Raum. Bodenlos. Ich sehe die Nylonfäden, die die Knie- und Handgelenke der Pappmaché-Figuren mit dem Cellobogen verbinden. Die Cellistin bewegt den Bogen, der Bogen bewegt die Nylonfäden, die Nylonfäden bewegen die Gelenke der Pappmaché-Figuren, die Pappmaché-Figuren werden bewegt von den Zeitungen, die Zeitungen sickern in die Leben ein, die Leben, leben wir.
Zeitung zu lesen ist schwierig geworden. Ich weiss nicht mehr, ob ich es wissen will, ob Kamala Harris Trumps Präsidentschaft verhindern kann.
d Performancedokumentation aus: Sammlung Revolving Histories (#bangbang-0680)
d Video aus: Sammlung Revolving Histories (#bangbang-1087)
Quellenangaben
Titel | Damenball in Ö
Performerin | Mo Diener
Performance und Rauminstallation mit 8 hängenden Skulpturen und einem Cello
Material | Zeitungen, Klebeband, Draht, Textilien, Silk
Kunsthaus Oerlikon, Konradstrasse 17, Zürich, 1989