Andrea Saemann:Hinter geschlossenen Augen
Andrea Saemann schreibt Über ihre Performance «Galgenhügelweglein» anlässlich der «Kunst der Begegnung» am Freitag, 14.10.11 im Kaskadenkondensator Basel.
In der Schule hiess das Fach Kunstbetrachtung. Es war Herr Stoll, der uns durch die Welt des Kunstmuseums führte und von Zeiten erzählte, die nicht die unseren waren. Einmal benutzte er, um das was er uns erklären wollte eindringlicher zu gestalten, seine beiden Arme. Genauer gesagt, seine Unterarme und Hände, die er wie Fäuste geschlossen hielt. Vor seinem Körper platzierte er seine Unterarme mit den Fäusten, den einen Arm näher am Körper als den anderen. Aber beide gehörten zu seinem Körper, der sprach, und zu seinem Mund, der uns die Beziehung vom Münsterhügel zum Hügel der Leonhardskirche erklärte, uns Schülerinnen im Fach Kunstbetrachtung die Opposition der Kräfte anschaulich machen wollte, die Kräfte die am Konzil in Basel wirkten, in dessen Folge das Münster reformiert wurde.
Zwei Unterarme, zwei Fäuste, angewinkelt vor seinem Körper platziert und zwischen den Unterarmen der Graben, wo der Fluss fliesst, wo die Birsig dem Rhein zufliesst. Hier der Klerus und die Nobeln, vom linken Ellenbogen beim St.Alban-Tor hin zur linken Faust, dem Basler Münster, die Chnödli-Spitzen dann bei der Martinskirche, kurz bevor der Rheinsprung zur Schifflände runterfällt. Dort die Handwerker in gewundenen Gässlein, mit Brunnen und Plätzchen, dicht am Berg, wo oben die Leonhardskirche auf der rechten Faust thront.
Von diesen Armen wollte ich ausgehen um in der Verlängerung des linken Unterarms vom linken Oberarm zu erzählen, nämlich da, wo meine Eltern wohnten und mein Vater die Schlaufen seines Abendspaziergangs zog. Das Galgenhügelweglein. Von dieser familiären Angelegenheit und Kindheit wollte ich den Asiat:innen berichten in der Kunst der Begegnung im Kaskadenkondensator, wo wir alle zeitgleich performten.
Auf diesem meinem linken Oberarm wollte ich stadtauswärts gehen, über das St.Albantor hinaus, die Gellertstrasse entlang hin zum Galgenhügel. Kurz vor der Autobahnschneise ist der Galgenhügel, am Brückenkopf über der Autobahn. Vom St.Albantor durch die Parkanlage hindurch in die Allee der Gellerstrasse gehen und hin zum Galgenhügel. Durch die Gellerstrasse mit ihrer Allee und den vielen Villen. Haben sich nur die Reichen gewagt, sich am Weg zum Galgenhügel niederzulassen, einzurichten, angstlos, weil der Galgen ja nie für sie gedacht war, sie ja wahrscheinlich die Richter waren, die den Zug mit dem Verurteilten zum Galgenhügel losschickten. All dies zwischen meinem linken Ellenbogen und der linken Schulterkuppe wo der Galgen stand. Wo ich mit weichem Ton auf meinem Arm den Weg knetete, vom Münster durch die St.Albanvorstadt zum St.Albantor zum Galgenhügel.
Dabei sass ich im Kaskadenkondensator nicht frontal zur Wand, sondern liess links eine kleine Öffnung, eine Einladung für eine Person mir zuzuhören, bei mir zu sein auf meinem Oberarm. Wieso wollte ich die Augen geschlossen halten? Um der Person den Raum zu geben, den sie einnehmen wollte, nicht dass die Augen den Weg versperrten? Ich wollte auf dieser Linie spazieren und verstehen, wie es kommt, dass in Basel der Weg zum Münster in einer graden Linie hin zum Galgen führt. Auf meinem linken Arm zumindest. Ich konnte die Bilder nicht vergessen von den Kerzen die brannten am Brückenkopf, der Galgen links, die Kerzen rechts. Denn einer sei von der Brücke runtergesprungen, hinein in den Morgenverkehr auf der Autobahn, stadtauswärts, und es habe eine Weile gedauert bis dass der rollende Verkehr nicht mehr über ihn gerollt sei, habe ich später in der Zeitung gelesen. Deshalb die Kerzen und die Person die dort eine Weile bleibt. Wie ich eine Weile auf meiner Schulter beim Galgen bleibe und mich entsinne, dass mir das Galgenhügelweglein am Rande der Autobahn immer etwas unheimlich war.
In Paris haben sie das Lineal im Herzen des Louvre angesetzt und sind dann die Tuilerien hinaus zum Arc de Triomphe etcetera weiter zur Défense hinaus gegangen, dieses grosse Tor westwärts. Wohin wollen sie? Ab nach Amerika? In Basel führt mich die Linie ostwärts vom Münster zum Galgen am Rande der Autobahn.
Die Augen zumachen beim performen, weil es alles Zufälle sind und ich sie nicht zusammenbringe, ausser auf meinem Oberarm, wo ich alles mit Ton forme und streife und knete. Die Augen zumachen, weil ich nicht in den Geschichtsbüchern nachgelesen habe und ohne Bücherwissen einfach auf meinem Arm rummache. Das Armreich abtaste, in dem mein Vater abends spazieren ging.
Die Asiat:innen haben mein schweizerdeutsch nicht verstanden, davon gehe ich aus. Ich weiss es nicht, sie haben nicht nachgefragt. Vielleicht operierten auch sie mit geschlossenen Augen. Es ist so, die Performance kommt nicht vor in meinem Werkverzeichnis. Ich habe gesucht nach «Kunst der Begegnung». Null Treffer. Der Oberarm wurde zu einem spekulativen Sprachraum, der sich auf den feuchten Ton legte. Eine Performance zu machen mit geschlossenen Augen, die ich nicht gesehen habe, die vielleicht auch das Publikum nicht gesehen hat. Bis mir Jahre später eine der beteiligten Performerinnen drei Fotos schickte.
Text Andrea Saemann, Februar 2022
«Kunst der Begegnung IV» kuratiert von Boris Nieslony (Köln), Gisela Hochuli (Bern), Mok Chiu Yu (Hong Kong)
14./15.10.2011, «Kunst der Begegnung IV» Basel, organisiert von Barbara Sturm, Gisela Hochuli, Marianne Papst und Simone EtterPerformance Art aus Hongkong und der Schweiz mit Andrea Saemann, Au Yeung Tung, Barbara Sturm, Boris Nieslony, Chan Mei Tung, Ger Choi Tsz Kwan, Gian-Cosimo Bove, Gisela Hochuli, Judith Huber, Leung Wai Man, Mok Chiu Yu, Sammu, Simone Etter, Vinci Mo, Yuenjie