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Andrea Saemann:
Luzern, Bern, Zürich

Andrea Saemann schreibt zu 3 Recherche-Meetings im Vorfeld des Projektes «Revolving Hi:stories – translokale performance geschichte:n*» im Oktober – Dezember 2021 in Luzern, Bern, Zürich.

Revolving Hi:stories lädt mit regionalen Akteur:innen zu Recherche Meetings in verschiedenen Städten. Das Projekt setzt auf den Live Moment und das kollektive Erinnern zur Performance Kunst, in einem Raum, zu einer Zeit. Eine Rolle von braunem, festen Packpapier, sowie farbige Filzstifte der Marke Neuland zeichnen und sichern die Erzählspuren analog.

Luzern

Zum Schluss erhalte ich einen Käse aus Nidwalden, einem Brie ähnlich nur etwas fliessender, den Rochus Lussi mitgebracht hatte. Er ist übrig geblieben. Neben der Randensuppe gibt es eine üppige Käseplatte gleich zu Beginn der Zusammenkunft, die leiblichen Bedürfnisse vorab zu befriedigen. So starten wir im (ort), dem Atelier von Judith Huber satt ins Erinnern.

2017-2019 hatten sich die Luzerner:innen schon dran gesetzt gehabt – im Rahmen der PANCH Lupe Luzern – Daten, Interviews und Dokumente zusammenzutragen und in einem research catalogue online zu verlinken und visuell aufzubereiten. Diese Ereignisse wurden auf das Papier übertragen und bildeten den Ausgangspunkt der Map. Das Papier hängt an der Längswand, die Beteiligten sitzen in zwei drei Reihen.

Pro Kopf wird in Luzern anscheinend enorm viel Geld ausgegeben. Hat dies mit dem Pulsieren der Stadt angesichts der ein- und ausfahrenden Tourismus-Busse zu tun? Das Geflecht von Institutionen und Off-Spaces scheint sich freundlich zu durchdringen. Die Kunsthalle Luzern ermöglicht ein frühes Sich Zeigen, dank Assistenzstellen und Einladungen zu Einzelausstellungen. Selbstorganisiertes Performance Kuratieren wird ins Museum eingeladen und aus reiner Freude ein einmaliger Preis verliehen. Ein Ankauf von drei Performances wird in der Kunstkommission der Stadt lanciert, präsentiert, getätigt und in den Folgejahren wieder losgelassen.

Die Überschaubarkeit des Kantons scheint Synergien zu ermöglichen und erlaubt Zusammenhänge zwischen dem Herabsetzen von Unternehmenssteuern und der Kürzung von Kulturgeldern in einem Augenaufschlag erfahrbar zu machen.

Die städtische Kunstschule und die Gestaltungsschule Material + Form prägten mit Ruedi Schill und Monika Günther als Dozent:innen das Verständnis und Unverständnis von Performance Kunst. Eine Hochschule für Volksmusik schliesst sich kurz mit Rock und Punk und Gothic und weiss um performative Strategien. Die Bespielung des öffentlichen Raumes wird im Kunststudium eingeübt und nach Bedarf politisch und kollektiv eingesetzt. War es ein gemeinsames Seedurchqueren, oder Reussdurchqueren, welches gegen die Kürzung der Kulturgelder wie gegen den Strom schwimmen wollte?

Bern

Das Papier hängt an der Querwand des Raums 369 im Progr. Es ist der Unterrichtsraum vom CAP, dem Performance Studiengang an der HKB mit Valerian Maly. Die Stühle stehen in circa 5 bis 6 Reihen davor. Der erste Besucher wählt die weiteste Entfernung zur Map und setzt sich diagonal in die Ecke. Alle weiteren, eintretenden Männer gruppieren sich in seiner Nähe, etwas davor, etwas daneben. Vorne bleibt es leer. In der Mitte treffen sich Einzelne aus verschiedenen Zusammenhängen.

Wie Norbert Klassen oder Lischka auch Lischi genannt eine Aktion oder Handlung gesehen haben und daraufhin weitere Einladungen folgen, davon wird wiederholt berichtet. Klassen unterrichtet an der Schaupielschule in Bern, Lischka reist international und zieht die Fäden auch zur F&F nach Zürich. Das Polaroid und die mediale Partnerschaft, die die ephemere Kunst mit allerlei Materiellem eingeht, wird früh thematisiert und in transdisziplinären Riesenprojekten an allerlei institutionellen und nicht-institutionellen Orten in Szene gesetzt. Ein Tuntenhaus, ein Coiffeur und gemeinsames Wohnen knüpfen Netze. Illegale Bars führen zur Wiedereröffnung der Reitschule. Galerien ermöglichen Präsenz und Geld und Spiel. Kunsthallendirektoren vererben das Interesse am Werk von Abramovic oder James Lee Byars. Das grösste schweizerische Performancefestival gründet sich in einem Theaterhaus und kreiert noch ein zweites für das junge, experimentelle Feld. Die Stadt ermöglicht 2012 die Publikation eines Berner Almanachs über die Geschichte der Performance Kunst in der Stadt. Kunstwissenschaftler und Kunstschaffende werden gleichermassen eingeladen sich daran zu beteiligen. Nach einem ersten Durchgang wird zum Essen an einer langen Tafel geladen, Gisela Hochuli hat eine Gemüsesuppe mit Bohnen gekocht und am Tischrand auf Holzbrettern verschiedenste Käse aus der Molkerei in ihrer Nachbarschaft bereit gestellt.

Nach mehreren Erzählungen und Berichten sagt einer, dass er nun das Subjektiv-Persönliche doch noch um das Objektive ergänzen möchte und erzählt seine Geschichte, ganz subjektiv und persönlich. Ein Anderer steht zum Schluss auf, kommt zu uns und fragt: Wird die Performance in Bern von Männern und in Basel von Frauen dominiert?

Zürich

Zürich ist gross, so gross dass es genügend Szenen gibt, die im Nebeneinander bestehen. Welche Szenen sitzen nun vor uns? Die Orte sind der Kunstraum der ZHdK im Toni-Areal, sowie das Tanzhaus an der Limmat, beide Räume fensterlos mit viel Beton. Im einen sind Kleber zum Aufhängen der Map erlaubt, im anderen nicht. Vielen ist das Toni-Areal unvertraut. Im Tanzhaus fällt mir auf, dass die Tänzerinnen nicht lange sitzen, sie haben Übung im Aufstehen und Position wechseln. Zwei Orte also die verglichen werden, auch wenn manche an beiden Orten präsent sind. An beiden Orten ist auch die Stadt spürbar und ihre Angewohnheit ihre Architektur perfektionistisch und sauber zu halten. Ein sauberer Umbau, ein sauberer Neubau nach einem Brand.

Alles Hingespülte tut gut und öffnet den Blick aufs Leben. Ein Flüchtling aus Ungarn, eine POC die perfekt schweizerdeutsch sprechen, der Hinweis dass nur 1% der Sinti, Roma und Jenischen wirklich «Fahrende» sind. Mit dem Wort «Informell» wird diese Kante zwischen dem Leben, dem Politischen und der Kunst beschrieben. Viel Selbstorganisiertes und eine Selbstverständlichkeit Gastgeberschaft zu übernehmen. Nachdem ich zwei Stunden an der Map geschrieben habe, werde ich aus dem Publikum mit Getränken und einem Sandwich versorgt.

Mit den Tänzerinnen schlängeln wir uns durch die Geschichte:n der Selbstorganisation und Institutionalisierung. Hinter dem Begriff «Gymnastik» versteckt sich nicht Sport, sondern künstlerische Freiheit. Tanzstudios und Körperarbeit ersetzen die fehlende Ausbildung. Männer gibt es kaum, ausser eine Frau, die zu gross ist um in eine Compagnie einzutreten, beziehungsweise die zu gross ist um von Männern hochgehoben zu werden. Auch wenn die Männer versichern, dass sie die Frau ist, die leicht hochzuheben wäre. Die Frau vom Fördertopf Tanz hat die Seite gewechselt. Jetzt darf sie als Tänzerin höchstens noch im Ausland auftreten.

Wie oft soll derselbe Name auf der Map auftauchen? Eine Liste von Veranstaltungsorten wird an den linken Blattrand gedrängt. Ausbildungsstätten schliessen rechts daneben an. Zuviel wäre da noch zu erwähnen. New York zum Beispiel. Grosse Namen sind im Kopf, aber nicht im Raum anwesend. Eigentlich scheint die Sonne.


Meeting Luzern, (ort) Emmenbrücke, 27.20.2021, organisiert von Judith Huber, Margarit von Büren 
Meeting Bern, Raum 369, Progr, 3.1.2021, organisiert von Gisela Hochuli, Valerian Maly
Meeting Zürich, ZHdK, 5.11.2021, organisiert von Dorothea Rust, Chris Regn
Meeting Zürich, Tanzhaus, 7.11.2021, organisiert von Dorothea Rust, Chris Regn

Maps, geschrieben, gezeichnet u.a. von Andrea Saemann

*Revolving Hi:stories – translokale Performance Geschichten ist ein Projekt initiiert und konzipiert von Lena Eriksson, Muda Mathis, Chris Regn, Andrea Saemann, Basel, 2021