Walter Siegfried: Der Riss
Walter Siegfried denkt in einem Essay über den «Riss» nach, anlässlich von «In Sichtweite Klangnah», einem Filmabend mit Live Gesängen am Donnerstag 05.04.2018 im MoE – Museum of Emptiness in St. Gallen.
«Si le signe de l’époque est la confusion, je vois à la base de cette confusion une rupture entre les choses et les paroles, les idées, les signes qui en sont la représentation.»
«Wenn das Zeichen der Epoche die Verwirrung ist, so sehe ich am Grund dieser Verwirrung einen Riss zwischen den Sachen und den Worten, den Ideen, den Zeichen, die sie repräsentieren.»
Antonin Artaud: Le théâtre et son double, Paris 1938, Vorwort, Auflage von 1964
Warum sollte ein Riss zwischen den Sachen und ihren Repräsentanten Verwirrung stiften? Worte, Ideen, Zeichen sind doch hilfreich für den Umgang mit den Sachen.
Mit der Fähigkeit, sich die Welt vorzustellen, sie zu denken, hat der Mensch die Möglichkeit, all das, was ihm begegnet (die Sachen) im Einbilden noch einmal zu schaffen. Er kann sich an die Sachen erinnern, sie in Gedanken nachzeichnen. Er kann im Winter an den blühenden Baum denken und das Gedachte um das kahle Gerippe vor dem Fenster werfen. Eine Bereicherung für den Erinnernden selbst und, wenn er das Eingebildete weiter erzählt, auch eine für die Zuhörenden. Das Wechselspiel von Hereinnehmen der Sachen ins Reservoir des Erinnerns und Zurückwerfen des Eingebildeten und Weiterverarbeiteten nach aussen in die Welt schafft permanent Verbindungen. Solange dieses Hin und Her spielt, kann nicht von Riss, Bruch, Trennung die Rede sein.
Antonin Artaud, von dessen Satz der Essay angeregt wurde, kommt vom Theater her. Die Bühne hat eigene Gesetze des Repräsentierens. Wer einen anderen Menschen darstellt, lässt den Dargestellten in seinem Leib anwesend werden. Die Tänzer, Schauspieler oder Sänger zeigen an/in ihrem Leib anderes Dasein. Die Möglichkeit, Regungen eines anderen Menschen in den eigenen Leib einsickern zu lassen, charakterisiert den Leib als Träger, der intensive Nähe erlaubt. Die Rollen finden Platz im Schauspieler, bewohnen ihn, werden präsent im Leib der Akteure. Der agierende Leib als Träger von anderem Leben ist eine fragile und komplexe Angelegenheit. Die Überlagerung von Figur und Repräsentant kann dabei Extremformen annehmen, so wie in der Geschichte (1) vom unglücklichen Darsteller des Ajax, der, den Wahn tanzend, selber wahnsinnig wurde. Im Identifizieren mit der Rolle wird er von letzterer vereinnahmt. Das tanzende Ich verliert seinen Führungsanspruch (2) über den eigenen Leib und übergibt ihn an die Rolle, die es nun nicht mehr spielt, sondern geworden ist. Der Leib, Träger eigenen Verhaltens, wird gekapert vom Verhaltensprogramm der zu spielenden Figur. Die Figur übernimmt die Regie; Identität der ‚Sache selbst’ mit dem Träger ihrer Vergegenwärtigung. Kein Riss nirgends in diesem extremen Beispiel.
Wenn Repräsentant und Repräsentiertes zusammen fallen, dann tragen die Sachen selbst Bedeutung. Der Granatapfel ist selber das, was er bedeutet: harte Schale, saftige Kerne, gekrönte Kugel. Die Sache bietet von sich aus an, was ihr zugedacht wird. Sie ist bereits das, was in Abbildungen herausgearbeitet und in Deutungen überhöht wird: Im Schattenwurf des reellen Apfels erscheint der Reichsapfel. Das farbige Bild eines im Schnee inszenierten Granatapfels arbeitet Glanz, Materialität und das Rot des Blutes heraus, das ihn zum Zeichen der Fruchtbarkeit macht. In den Texten des Hoheliedes entfaltet er seine Sinnlichkeit und in die prächtige Medaille gestanzt, steht er für lang andauernde Machtfülle des habsburgischen Reiches. Die Abbilder bereichern die Sachen selbst, indem sie jene Qualitäten herausarbeiten, die zwar schon in den Sachen angelegt sind, aber durch die Repräsentationen noch besser fassbar werden – man erkennt sie danach auch deutlicher an den Sachen selber. Durch die verschiedenen Stellvertreter der ursprünglichen Sachen zeigen sich diese selbst stets neu. Die Abbilder, aus der Wirklichkeit herausgeformt und nuanciert, können in die Welt zurück geworfen werden. So machen die Repräsentationen die Sachen selbst reich,schillernd, vieldeutig.
Nun hat ja die eine gleiche Sache sehr unterschiedliche Qualitäten. Über eine rauschende Linde (3) lässt sich leicht erzählen; sie aber zu repräsentieren jenseits von Sprache, wirft sogleich Fragen auf: Welches Medium ist adäquat? Ist das Rauschen wichtiger oder die Linde als Bild? Die Ganzheit des rauschenden Baumes wird auseinander genommen. Was im Erleben mit einem Schlag erfasst werden kann, wird für das Aufbewahren auf Speichern in einzelne Teile zerlegt: Das Rauschen kommt auf einen Tonträger; die optische Erscheinung auf eine Fotoplatte; Teile des Baumes schön zerlegt als Blüten, Wurzeln, Samen, Blätter in eine Holzbibliothek oder auf einen Herbarbogen.
Der pflanzensammelnde Carl Linné und seine Herbarblätter führen uns weiter. Er verlässt die Tradition, Pflanzen in Büchern, in gebundenen Konvoluten zu sammeln, die jeweils eine Region oder eine Pflanzen-Exkursion vertreten. Er fixiert vielmehr die gesammelten Stücke je einzeln auf losen Herbarblättern. Das Eingebundensein der Pflanzen in ihren Kontext wird auseinander genommen, zerschnitten, auseinandergelegt. Des Botanikers Devise «Gott hat es geschaffen, Linné hat es auseinander gelegt» wird im Schrank (4) für seine Herbarblätter anschaulich. Der schlanke hohe Kasten schafft Ordnung durch viele verschiebbare Tablare, in die die einzelnen Blätter einsortiert werden können. Die Kamille aus Montpellier ist jetzt nicht mehr eingebunden in den Band Flora Montpellier um 1560 des Felix Platter. Sie ist gleichsam mobilisiert und kann als Einzelblatt im Ordnungskasten auf den Tablaren «Kamillen» hin- und hergeschoben und mit anderen Kamillen der Welt verglichen werden. Und wenn wir jetzt schon bei diesen staubigen Herbarblättern sind: Wie viel einfacher sind doch Fotos zu handhaben. Da bricht nichts ab, da gibt es keine störenden Erhebungen, die harten widerständigen Wurzeln sind genau so flach wie die feinen Blütenblätter – solche Abbilder der Pflanzenwelt lassen sich viel schneller sortieren als die fragilen Herbarblätter.
Letztere bleiben aber ein wunderbar klärendes Phänomen für unsere Frage nach der relativen Nähe des Stellvertreters zur Sache selbst. Wie nahe ist das Abbild, das Repräsentierte an der Sache selbst dran? Wie sehr ist die Sache in einem Text, in einem Zeichen, in einem Bild aufgehoben? Auf den Blättern eines Herbariums werden Pflanzen repräsentiert und zwar durch die Sache selbst. Jedenfalls fast durch die Sache selbst, denn gemeint ist meist die saftstrotzende, lebendige, und reproduktionslustige Pflanze. Die Repräsentation, das Abbild ist aber ein trockenes, manchmal farblos fahles, hie und da zerbröselndes Etwas, das einmal die Pflanze war. Viel Zerbrochenes zwar, aber kein Riss zwischen dem Repräsentanten und der Sache. Die gepresste Pflanze ist zweifelsfrei identisch mit der Sache, die sie abbildet. Ihr Zerfall ist ein ‚memento mori’, das darauf hinweist, dass nicht nur Abbilder endlich sind, sondern dass auch die Sachen selbst – zum Beispiel wir Betrachter, die jedes Blatt sorgfältig umlegen müssen und nie schnell blättern dürfen – zu Staub zerfallen.
In Büchern findet man manchmal eine Blüte dort eingelegt, wo im Text von ihr gesprochen wird oder Abbildungen der entsprechenden Pflanze zu sehen sind. Wenn das Buch lange genug unberührt geblieben ist, öffnet sich mit dem Aufschlagen der Seite eine ganze Welt. Die echte Blüte hat sich auf den sie pressenden Buchseiten durch zwei verschiedene Abklatsche verdreifacht. Die Abklatsche treten in Beziehung zur Originalpflanze, zur Abbildung im Buch, zu den Texten und zur Frage, wer diese Blüte dort reingetan haben könnte. Meist sind die Originalpflanzen sehr sorgfältig ins Buch gelegt worden, zum Beispiel so, dass die Blütenblätter schön zu Geltung kommen – ähnlich wie in den Herbarien, wo die Pflanzen immer in charakteristischen Positionen fixiert werden. Auch die Zeichner der Kräuterbücher wussten genau, wie sie eine Pflanze ins Blatt zu setzen hatten, damit die typischen Merkmale klar erkennbar wurden.
Dieses sehr bewusste Hinlegen gilt ganz besonders für Naturselbstdrucke (5), bei denen die Originalpflanze nach dem Pressen entfernt wird, so dass nur der Abdruck als Abbild bleibt. Die Natur zeichnet gleichsam ihr eigenes Bild. Dabei vermengen sich manchmal Elemente der Abbildung mit solchen der Sache selbst. Ein Blattrest bleibt beim Ablösen auf dem Träger. Der Abklatsch geht über ins Material der Sache selbst. Eine innige Verquickung von der Sache selbst und dem Zeichen der Sache. Dieses Phänomen wird auch genutzt im künstlerischen Bereich (6): eine Original Kreidezeichnung, die Sache, wird kräftig auf ein zweites Blatt gepresst, so dass ein Teil der Zeichnung als Material auf dem anderen Träger abgelagert wird. Die Kopie besteht aus wirklichen Teilen des Originals. Das Abbilden der Sachen geschieht hier durch physische Nähe und Übertragung einzelner Partikel. Die so entstehenden Abbilder sind also den Sachen selbst sehr nahe, sie sind eigentlich Teil der Sache selbst. Sie bilden ein ganz eigenes Reich der Repräsentationen, in dem die Verbindung zu den Sachen selbst im Vordergrund steht.
Eingeritzt auf einem Felsen in den französischen Westalpen kann man ‚Il Mago’ aus der Bronzezeit sehen. Man muss recht lange wandern, um ihn zu erleben, wie er da oben, nahe am Monte Bego, mit seinen Dolchen thront. Es gab, als ich ihn aufsuchte vor bald fünfzig Jahren, Gerüchte, man wolle den Felsbrocken aus dem Bergmassiv lösen und so den Magier nach Paris holen. Das wäre der sichere Tod des Magiers gewesen, denn für ihn gilt, was für alle wirklich ortsbezogene Kunst gilt: Sie gehört zum Ort, sie von dort wegnehmen heisst, sie zerstören. So ähnlich hat Richard Serra – ein herausragender site-specific artist – formuliert, als man seinen ‚Tilted Arc’ von der Federal Plaza in New York entfernen wollte: «To remove ‚Tilted Arc’, therefore, is to destroy it.» (7)
Das zentral organisierte Frankreich wollte den echten Magier – die Sache selbst – in seiner Hauptstadt haben. Ich wollte auch etwas mitnehmen von der Sache: ein ‚Abbild’ oder zwei, oder drei, oder viele. Ich entschied mich für zwei Abbildungsverfahren: das eine waren Diapositive, das andere ein sogenannter Abklatsch. Für diesen Abklatsch hatte ich Pauspapiere vorbereitet und mitgenommen. Sie wurden direkt auf den Felsen gelegt und zwar mit der farbabgebenden Seite nach oben. Darauf wurde dann ein weiches Papier so gelegt und an den Rändern fixiert, dass ich mit meinem eigens geschaffenen Instrument (8) leicht auf das Papier schlagen konnte und dadurch die Struktur des Felsens mit seinem eingeritzten Magier auf das Papier übertragen wurde. Das Bild ist inzwischen fast verblichen, aber die Struktur des Umrisses ist immer noch als Prägung erkennbar im Papier. Natürlich bedeutet mir diese Repräsentation viel mehr als alle Dias zusammen. Sie erinnert mich an die Reise nach Frankreich, an den Aufstieg zum Monte Bego, an die dort verbrachte Zeit beim Vorbereiten der Papiere, an das Fixieren und an das sogfältige Durchreiben selbst, das mich dann weiter zurück in meine Kinderzeit führt, wie ich beim Kopieren von Münzen und Medaillen immer wieder dünne Papiere über die abzuprägenden Motive lege und dann mit der Rückseite von einem Bleistift über das festgehaltene und oft genug verrutschende Papier reibe, bis die Bilder endlich mehr oder weniger klar zu erscheinen beginnen. Der direkte Kontakt mit der Sache im Abtasten schafft eine innige Nähe zwischen Sache und Abbild. So auch in den Abrieben vom Monte Bego. Das Papier atmet für mich heute noch die Berührung des Durchpausens. Der Magier ist präsent im Papier.
Vom Abrieb der Felsritzung gibt es keine Kopie. Ich könnte ihn fotografieren. Das Resultat wäre dann aber etwas Anderes und gut vom ersten Abbild zu unterscheiden. Das Fotopapier wird nämlich flunderflach auf dem Tisch liegen und keine Erhebungen, Vertiefungen, Transportspuren zeigen. Das Blatt mit dem Abrieb hat den ganzen Weg nach Frankreich auf den Berg und zurück mitgemacht und aufgezeichnet. Das Blatt, der erste Abbildträger, trägt nicht nur das verbleichende Bild – es erzählt auch die Geschichte des Entstehens. Das Dia und seine unzähligen Duplikate zeigen dagegen ‚kommentarlos’ den Mago. Sie retten das Zeichen besser als das Abklatsch-Papier. Das nackte Zeichen des zu Repräsentierenden ist bestens aufgehoben im Dia. Aber der Weg bleibt auf der Strecke.
Ist der Weg wichtig für die zu repräsentierende Sache? In der obigen Beschreibung spielt der Weg eine gewisse Rolle. Aber gehört er zur Sache? Wieviel, oder was von der Sache soll repräsentiert werden? Wo fängt die Sache an? Kern ist das grafische Zeichen des Mago. Wo ist das Zeichen zu Ende? Gehört der gletschergeschliffene Fels, auf dem das Zeichen eingeritzt ist, dazu? Gehört der ganze Berg, gehören die Winde, die Jahreszeiten, die Interpretationen um mögliche rituelle Funktionen dazu? Je nachdem, was man als zur Sache gehörig definiert, verändern sich die Anforderungen an die Repräsentation: die Vergegenwärtigung der Sache. Hier geht es um den Mago in seinem situativen Kontext: um das grafische Zeichen und seinen Träger; um Winde, Fels und Berg – und um den mühsamen Weg zu seinem Ort dort oben. Denn erst auf dem Weg wird der Wanderer reif für das Zeichen. Eine adäquate Vergegenwärtigung des Mago muss das leermachende Gehen, das ermüdende Aufsteigen des Wanderers mit einbauen, um den Effekt des plötzlichen Erscheinens des Zeichens mit abzubilden. Das leistet der Abklatsch natürlich auch nicht, aber er zeigt in seiner Materialität doch entschieden mehr davon als das Dia.
Man kann das Fehlende beim Zeigen des Dias dazu sagen, oder einen Text neben einen ausgestellten Abzug setzen, oder im Audioguide die Geschichte erzählen lassen. Das, was in der Sache selbst vereint war, rekonstruiert die Ausstellung hintereinander oder nebeneinander oder überlagernd. Damit kommt man dem Ganzen der Sache wieder näher. Das Dia als Zeichen wird sprachlich ergänzt, ähnlich wie oben die Rede davon war, das Bild vom Baum durch eine Audiospur des Rauschens zu erweitern, um das Gesamterlebnis ‚rauschender Baum’ aufzubewahren und es re-präsentierbar zu machen. Für die Vergegenwärtigung der Sache wird das Ganze der Sache auseinander gelegt, zerschnitten und die dabei entstehenden Teile werden neu zusammengesetzt.
Das Zerschneiden der Sache für das erneute Vergegenwärtigen hat sich auch für das Repräsentieren von Bewegungen bewährt. Schon die Malereien in Lascaux oder die Skulpturen der Griechen zeigen spannende Lösungen, wie Bewegungen abgebildet werden können. Aber erst mit dem Film wird eine tatsächliche Repräsentation von Bewegungsentwicklungen in der Zeit möglich. Beim Anschauen von Bewegungen in einem Tanzfilm, sieht man homogene Bewegungsabläufe. Man interpretiert die Abfolge von 25 Standbildern pro Sekunde als fliessende Bewegung. Bei einer Bild zu Bild Analyse dieser 25 Bilder zeigt sich, dass Teile der Bewegung nicht aufgezeichnet sind9. Zwischen zwei Bildern fehlt jeweils ein – je nach Geschwindigkeit der Bewegung – längeres oder kürzeres Stück des Weges. Was zwischen den zwei Bildern effektiv geschehen ist, das ist nicht aufgezeichnet. Es fehlt in der Repräsentation und kann nicht mehr aus ihr erschlossen werden. Die Repräsentation suggeriert Bewegung, ist aber faktisch eine Illusion von Bewegung, rekonstruiert aus totgestellten Momenten der Wirklichkeit.
Das Filmbeispiel ergänzt das weiter oben beschriebene Isolieren der Sache aus dem Umfeld durch einen zweiten Isolationsprozess. Beide Prozesse bedingen, als Vorstufen zur Repräsentation, Schnitte in die Entwicklung der Sachen: Schnitte im Raum und Schnitte in der Zeit. Sie stehen im Widerspruch zur Wirklichkeit als Kontinuität permanenter Bewegungen.
Entsprechen die herausgearbeiteten Isolationsprozesse dem Riss zwischen den Sachen und ihren Stellvertretern im eingangs zitierten Satz von Antonin Artaud? Sie scheinen zumindest Basis für mögliche Interpretationen zu sein. Sie beschreiben spezifische Brüche und Risse in Raum und Zeit beim Abbilden. Sie haben sich gezeigt beim Befragen der Trägermaterialien für die Abbilder, die einmal mehr, einmal weniger Nähe zur Sache selbst zulassen.
Es wurde gezeigt, wie das Zerteilen und die Schnitte in die Sachen notwendig waren, um ihre Qualitäten zu verstehen, sie aufzuzeichnen und zu speichern. Verschiedene Speicher dienten im Laufe der Zeit als Orte für das Aufbewahren der fragmentierten Sachen oder von deren Stellvertretern. Das Schneiden wurde perfektioniert, immer feinere Einheiten der Sachen konnten isoliert, abgebildet, gespeichert werden bis schliesslich die einzelnen Partikel den menschlichen Sinnen nicht mehr zugänglich waren, jedenfalls nicht ohne Hilfsmittel. Die aus den oft zerschnittenen Sachen generierten und sie stellvertretenden Daten sind von jetzt an – homogenisiert und kompatibel gemacht – auf Universalspeichern lagerbar und von dort abzurufen.
Das Gespeicherte selber sagt von da an dem Laien nichts mehr. Damit es sinnlich erfahrbar wird, muss es aus den gespeicherten Daten – mit entsprechenden Geräten – als neues, Ganzheit suggerierendes Leben rekonstruiert werden. Dieses Neue ist eine aus den gespeicherten Daten errechnete Welt. Die gespeicherten Daten aber – das versucht der Essay zu umkreisen – repräsentieren nicht die ganzen Sachen, sie schneiden Teile der Sachen weg. Aus ihren Kontexten heraus gelöst und ihrer zeitlichen Entfaltung durch Zerstückelung beraubt, fehlen den Stellvertretern der Sachen kleine verbindende Partikel. Sie sind in dem Modell nicht mitgedacht und sind aus den Aufzeichnungen verschwunden. Rekonstruiert man Welten aus diesen amputierten Daten, dann haben die so errechneten Welten keine Berührungspunkte mehr mit dem, was sie zu repräsentieren vorgeben. Die errechneten Repräsentationen stehen neben der materialen Kontinuität der Lebenswelt: ein verwirrender Riss.
Essay von Walter SiegfriedMünchen • Zofingen • Oktober 2017
(1) Lucian von Samosata: Dialog von der Tanzkunst. zitiert in Max von Boehn: Der Tanz, Berlin, 1925, 163 f.(2) Bertolt Brecht verlangt von seinen Darstellern dagegen grösste Distanz zur Rolle. Dem Publikum soll permanent deutlich werden, dass da ein Schauspieler eine Rolle spielt.(3) Ein Baum kann in einer Geschichte aufgehoben sein, auf einer Tonspur weiter rauschen, als Abguss der Rinde an seiner ursprünglichen Stelle stehen, in Tafelbildern sich durch die Jahreszeiten bewegen, in einer Holzbibliothek durch eine Sammlung seiner Bestandteile aufgehoben sein – um nur einige Variationen aufzulisten.(4) Heesen, Anke te; Michels, Anette: Auf / Zu – Der Schrank in den Wissenschaften. Akademie-Verlag Berlin, 2007(5) Herausragende Beschreiber und Verfertiger solcher Drucke: Leonardo da Vinci / Girolamo Cardano in ,De subtilitate’, 1554 / Johann Hieronymus Kniphoff / Alois Auer von Welsbach(6) Beyer, Jonas; Ketelsen, Thomas ed. Der Abklatsch: eine Kunst für sich; Ausstellungskatalog Wallraf-Richartz-Museums & Fondation Corboud Köln, 2014(7) Douglas Crimp ‚Redefining Site Specificity’ in: Rosalind Krauss: Richard Serra / Sculpture MMA New York 1986(8) eine Art verlängerter Hammer, der anstelle des Hammerkopfes eine Haltevorrichtung für einen Tennisball hatte. So kann der klopfende Ball präzise geführt werden.(9) Ich habe im Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen viele Stunden Kinderspieltanz analysiert und war oft irritiert durch diese ‚Löcher’ im Abbildungsprozess. «Dance the Fugitive Form of Art. Aesthetics as Behavior» in: «Beauty and the Brain» Editors: Rentschler, Herzberger, Epstein. Birkhäuser-Verlag. Basel Boston Berlin, 1988