Dorothea Rust:Auf den Auslöser drücken in Momenten von Maria Hassabi’s «in progress»
Dorothea Rust schreibt nach der Performance «in progress» von Maria Hassabi am Samstag 13.08.2022 in BANG BANG – translokale Performance Geschichte:n, ein Ausstellungsprojekt von Revolving Histories/Performance Chronik Basel und Museum Tinguely Basel, vom 8. Juni bis 21. August 2022 .
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Bevor Maria die große Ausstellungshalle von außen betritt, gehen in der Halle bereits Verkehrsgeräusche und menschliche Stimmen in ein elektronisches Rauschen über und werden manchmal zu einem düsteren Klang-Brummen, das den Raum einnebelt. Der Großteil des Publikums sitzt auf Stühlen, einige vorne auf Kissen auf dem Boden. Maria geht rechts am Publikum vorbei, schreitet langsam in die Mitte des großen, leeren Saals und kommt dann vor uns zum Stehen. Ihre Kleidung: zwischen Alltag und Glamour mit Turnschuhen, angesagten zerrissenen Gang-Jeans und einem weißen Hemd, dieses mit großen funkelnden Glassteinen besetzt, die sich wie eine seltsame Wucherung über die linke Seite ihrer Brust und über ihre Schulter schlängeln. In dem Moment, in dem sie vor uns steht, löst sich der Glamour in einem hochgradig angespannten, konzentrierten Gemütszustand auf, der durch den Saal schwappt.
Schon damals, als ich in der Halle des Tinguely-Museums anwesend war, und jetzt später, wenn ich zu Hause schreibe und mich erinnere, kann ich Maria’s Bewegungen nicht sehen. Ich bin damit beschäftigt, Momente wahrzunehmen. Wenn ich Momente schreibend einfange wie: «ihre Haltung ist in eine Hüfte gesunken, die rechte Hüfte, und dann ist ihr Kopf ganz nach hinten geneigt, so dass ich ihr kantiges Kinn überhaupt erst sehen kann». Solche Momente wollen mir sofort wieder entgleiten, und doch scheine ich welche einzufangen, sie lösen etwas in mir aus. Ein Bild flammt in mir auf: Die Haltung einer Frau, ihr Kopf ganz nach hinten geneigt wie Marias Kopf. Es stammt von einem Gemälde aus dem 19. Jahrhundert, das eine Sitzung mit Jean-Martin Charcot zeigt, der die Hysterie-Patientin Blanche Wittman im Hörsaal der Salpêtrière vorführt. Das Demonstrationsobjekt Blanche Wittman ist weniger aufrecht als Maria und wird von hinten durch die Hand eines Mannes gestützt. Der Raum in der Salpêtrière ist von Männerblicken erfüllt. Maria hier im Museum Tinguely ist kühn, mutig und entschlossen. Sie beherrscht die Choreographie ihrer Bewegungen und überlässt sich der Zeit und den Blicken des gemischten Publikums. Wir sind ihrer modischen, gestylten, verletzlichen, sensiblen und raffinierten Präsenz ebenso ausgesetzt wie sie uns. Verkörpert sie eine Botschaft zur gefährdeten weiblichen Spezies? Sie trifft einen Nerv: sie lässt mich an all die Femizide denken, die in der Welt geschehen. Femizide sind in den meisten Ländern ein unterschätztes Phänomen. Suggeriert Maria durch ihre zeitlich gestreckten Bewegungen eine Art Selbstermächtigung über jeden Augenblick? Ein unmöglicher Wunsch, den (viele) Frauen und weibliche Wesen in ihrem Alltag nicht erfüllen können, weil sie allen möglichen sozialen und zeitlichen Zwängen unterworfen sind. Aber könnte es als Wunsch und spekulativer Lebensentwurf gehen?
Ist diese Performance-Raum-Situation im Museum Tinguely eine drucklose Zeit ohne Zwänge? Wie geht es Maria im ‘Milieu’ dieser Performance-Situation? Vielleicht hat sie eine vorbereitete, sorgfältig ausgearbeitete Bewegungssequenz mitgebracht, die die Zeit als Momente choreografiert. Das kann ihr helfen, sich auf sich selbst zu konzentrieren und das kinetische Bewusstsein für die kleinen Veränderungen in ihren Bewegungen zu erhalten. Auf jeden Fall beleuchtet Maria jeden Moment gleichermaßen, kein Moment ist wichtiger als der andere. Unmerklich verlagert sie ihr Gewicht von Moment zu Moment in Momente des Wartens, Haltens, Hängens, Drehens, Schiebens, Hebens, Faltens, Aufrichtens ... Es gibt keinen Schwung in der Bewegung, alles wird gleichmäßig im Zeitablauf durchgeführt, eine schwierige Aufgabe, wenn sie sich in einer Zwischenposition befindet. Sie muss in jedem einzelnen Moment ihr Gleichgewicht halten. Es muss eine subtile Verknüpfung zum Atem geben, die ich nicht sehen kann, ich aber an meinem eigenen Atem spüren kann. Kein Einfrieren in Standbilder, keine Bewegung in Zeitlupe, sondern Momente der vorübergehenden Bewegung, die sich in viele Momente aufteilen. Und doch bilden die Momente in ihrer Gesamtheit kein kohärentes Ganzes, vielmehr stehen die einzelnen Momente für sich selbst. Jeder für sich eine untypische Erfahrung? In der deutschen Sprache bedeutet der Begriff ‘Augenblick’ wörtlich etwas zwischen einem Augenaufschlag und einer Momentaufnahme, denn der Augenaufschlag ist mehr als ein Blick mit den Augen, er ist ein Blick mit dem ganzen Körper. Wo habe ich gelesen, dass «der Augenblick jener zweideutige Moment ist, in dem sich Zeit und Ewigkeit berühren»? Und Platon hätte gesagt, dass «der Augenblick ortlos, nirgends, fehl am Platz ist».
Maria schafft ein temporäres Vakuum in der Aufführungssituation im Museum Tinguely: Auf einem einsamen Dampfer bewegen wir uns durch ein endloses Meer, sehen nichts Bestimmtes und sind doch gefesselt vom Anblick des Meeres und seiner Wellen und ungeklärten Details. Die ganze Zeit während der Aufführung stehe ich an der gleichen Stelle, bewege mich fast nicht - hypnotisiert? Und weil wir nichts spektakulär Greifbares sehen, werden wir auf uns selbst zurückgeworfen, auf unsere (eigenen) Phantombilder. Es gibt hier weder gute noch schlechte Momente, es gibt nur Momente, die sich in einem größeren Gefüge verfangen. Ein anderes kollektives Bild blitzt in mir auf, als Maria mit einem in die Luft gestreckten Arm eine momentane (fotografische) Pose einnimmt: das ikonografische Bild von Robert Capas «Loyalist Militiaman at the Moment of Death, Cerro Muriano, September 5, 1936». Es ist ein spektakuläres Kriegsfoto im kollektiven Bildspeicher. Es ist der Moment, in dem ein Kämpfer von einer Kugel in den Kopf getroffen wird, und Robert Capa auf den Auslöser drückt. «Es gab erhebliche Zweifel an seiner Authentizität... » Dennoch drängt sich dieses Bild in mein (verborgenes) Gedächtnis und sagt mir, dass Maria Fotoeffekte erzeugt und wir, das Publikum, auf den Auslöser drücken.
Unaufgeregt und gleichmäßig scheint sie durch die Bewegungen zu gleiten. Ich glaube, in ihrem Körpertimbre etwas Kraftvolles, Verbindliches, Unnachgiebiges und höchst Emotionales zu erkennen. Brodelt da ein Vulkan in ihr?
Hier gibt es keinen Informationsgehalt, keine Kommunikation, nur die Kraft der Augenblicke, denn jeder Augenblick geht in den nächsten über, ist ununterbrochenes Aufhören und Werden. Sie ist verlassen, ich bin verlassen, wir alle sind verlassen, keine Bindungen, außer der Zeit? Und unsere flüchtigen Assoziationen, Bilder und phantomhaften Erinnerungen? Dies mitzuerleben, ist das eine unbekannte Art des Seins, die jeden Augenblick kostbar macht? Was ein Bewusstsein für das Handeln auch im aktiven Sinne des Wortes hervorrufen könnte, wie Hanna Arendt es sieht: «Das Handeln als die einzige Tätigkeit, durch die wir Menschen das werden können, was wir im wahren Sinne des Wortes sind. Handeln nicht nur als notwendige Bedingung (conditio sine qua non), sondern als hinreichende Bedingung (conditio per quam) der menschlichen Existenz.» Hier folgt sie dem aristotelischen Verständnis des Menschen als Lebewesen in der politischen Gemeinschaft (zoon politikon). Wenn ich für einen Moment von Maria, der Performerin, weg und dann wieder zu ihr und um mich herumschaue und all diese Menschen sehe, die sich schweigend auf Maria und die Situation hier konzentrieren, scheint es, dass ‘sie, Maria, die Performerin’, nicht allein ist, dass ich nicht allein bin, dass wir nicht allein sind, dass wir in vorübergehender Gesellschaft mit anderen sind, die dieselbe Zeit und denselben Raum teilen, was auch immer die anderen erleben mögen. Und was auch immer diese ca. 40-minütige Aufführungszeit später indirekt an Handlungen hervorrufen mag.
© Dorothea Rust (Autorin, Künstlerin, 8003 Zurich)rust.doro@bluewin.ch, www.dorothearust.ch